Ohne Ziel; aufs Geratewohl, wanderte Akaki wie ein Traumwandler in den Straßen umher ... »Welch eine Verlegenheit!« sprach er in einem fort vor sich hin ... »Wahrlich, das hätte ich nie geglaubt, daß es ein solches Ende nehmen würde. Nein«, fuhr er nach kurzem Schweigen fort, »das konnte ich nicht ahnen, daß es dahin kommen könnte ... da befinde ich mich nun in einer vollständig unerwarteten Lage ... in einer Bedrängnis, daß –«
Und sein Selbstgespräch in dieser Weise fortsetzend, ging er, statt sich seiner Wohnung zu nähern, in einer ganz verkehrten Richtung, ohne es auch nur zu merken.[18] Ein Schornsteinfeger schwärzte ihm im Vorübergehen den Rücken. Aus einem Hause, an dem gebaut wurde, schüttete ihm ein Korb eine Ladung Gipsbrei auf den Kopf. Aber er sah und hörte nichts. Nur als er gegen einen Wachtposten anprallte, der, nachdem er seine Hellebarde neben sich gestellt, aus einer Dose Tabak in seine knochige Hand schüttete, wurde Akaki aus seiner Träumerei aufgerüttelt.
»Was suchst du hier?« schrie ihn der rohe Hüter der städtischen Ordnung an; »kannst du nicht ordentlich da über den Bürgersteig gehen?«
Diese plötzliche Anrede weckte Akaki endlich vollständig aus seinem dumpfen Zustande. Er sammelte seine Gedanken, betrachtete seine Lage mit ungetrübtem Blick und ging ernst, freimütig, wie mit einem Freunde, dem man seine Herzensgeheimnisse vertraut, mit sich zu Rate.
»Nein«, sprach er endlich, »heute erlange ich nichts von Petrowitsch ... heute ist er in schlechter Laune ... vielleicht hat ihn seine Frau geprügelt ... ich will ihn nächsten Sonntag wieder aufsuchen. Sonnabends hat er sich einen Rausch angetrunken, dann muß er sich am folgenden Tage erholen ... seine Frau gibt ihm kein Geld ... ich drücke ihm einen Griwenik in die Hand, dann ist er gefügiger, und wir können weiter von dem Mantel reden.«
Durch diese Betrachtungen ermutigt, wartete Akaki geduldig bis zum Sonntag. Als er an diesem Tage von fern Petrowitschs Frau aus dem Hause gehen sah, begab er sich zu dem Schneider und fand ihn, wie er erwartet hatte, infolge des Samstagsvergnügens in sehr niedergeschlagener Stimmung. Aber kaum ließ Akaki ein Wort von dem Mantel fallen, da erwachte der diabolische Schneider urplötzlich aus seinem dumpfen[19] Zustande und rief: »Nein, daraus wird nichts! Sie müssen sich unbedingt einen neuen Mantel kaufen!«
Der Titularrat drückte ihm einen Griwenik in die Hand.
»Danke, Verehrtester«, sagte Petrowitsch, »das wird mich wieder ein bißchen zu Kräften bringen, und ich will's auf Eure Gesundheit vertrinken. Aber was Ihren alten Mantel anlangt, sehen Sie, wozu darüber reden? Der ist keinen roten Heller mehr wert. Lassen Sie mich nur machen, ich baue Ihnen einen prachtvollen Mantel, dafür stehe ich Ihnen ein.«
Der arme Akaki Akakjewitsch drang noch immer in den Schneider, ihm den alten auszubessern.
»Nein und nochmals nein«, versetzte Petrowitsch; »ganz unmöglich! Verlassen Sie sich auf mich, ich übervorteile Sie nicht. Und ich werde sogar, wie das jetzt Brauch ist, silberne Haken und Ösen an den Kragen ansetzen.«
Diesmal sah Akaki ein, daß er sich dem Willen des Schneiders fügen müsse, und wiederum sank ihm aller Mut. Er mußte sich einen neuen Mantel machen lassen. Aber wovon ihn bezahlen? Freilich hatte er eine amtliche Gratifikation zu erwarten. Aber dafür hatte er bereits eine Verwendung gefunden. Er mußte sich Beinkleider kaufen und seinen Schuhmacher bezahlen, der ihm zwei Paar Stiefel ausgebessert hatte, und neue Wäsche kaufen, kurz, alles war schon im voraus ausgegeben. Wenn – was ein ganz unerwarteter Glücksfall wäre – der Direktor die übliche Gratifikation selbst von vierzig auf fünfzig Rubel erhöhte, was war ein so winziger Betrag gegenüber der ungeheuren Summe, die Petrowitsch forderte. Ein Tropfen Wasser ins Meer.
Allerdings stand zu erwarten, daß Petrowitsch, wenn er guter Laune war, den Preis bedeutend herabsetzte, so daß seine Frau zu ihm sagen würde: »Bist du verrückt?[20] Manchmal arbeitest du ganz umsonst, und ein andermal forderst du ganz unmenschliche Preise!«
Er meinte also, daß er Petrowitsch wohl dazu bestimmen würde, ihm seinen Mantel für achtzig Rubel zu liefern; aber diese achtzig Rubel – wo sie finden? Vielleicht könnte es ihm gelingen, wenn er alle Hebel in Bewegung setzte, sich die Hälfte zu verschaffen. Aber die andere Hälfte – er sah keinen Ausweg. Wir sind dem Leser Rechenschaft darüber schuldig, wie der wackere Titularrat sich diese Hälfte herbeizuschaffen gedachte. Er hatte die Gewohnheit, so oft er einen Rubel erhielt, eine Kopeke davon in eine geschlossene Büchse zu legen. Am Ende eines halben Jahres nahm er diese Kupferstücke und wechselte sie gegen Silber ein. Dieses Sparsystem hatte er schon seit langer Zeit betrieben, und in diesem Augenblick beliefen sich seine Ersparnisse auf vierzig Rubel. Auf diese Weise befand er sich im Besitz der Hälfte der erforderlichen Summe. Aber die andere Hälfte! Akaki stellte lange Berechnungen an; dann endlich sagte er sich, daß er mindestens ein ganzes Jahr hindurch verschiedene seiner täglichen Ausgaben beschränken, sich abends den Tee versagen und, wenn er eine Arbeit zu machen habe, sich mit seinen Akten in das Zimmer der Wirtin setzen müßte, um in seinem eigenen die Feuerung zu sparen. Auch nahm er sich vor, auf der Straße das spitzige Pflaster zu meiden, um so seine Fußbekleidung zu schonen, und dann auch noch die Ausgaben für Wäsche herabzusetzen.
Anfangs fielen ihm diese Entbehrungen etwas schwer. Allmählich jedoch gewöhnte er sich daran, und schließlich begab er sich ganz ohne Abendessen zu Bett. Während sein Körper unter dieser Abtötung litt, sog sein Geist aus dem stetigen Gedanken an seinen Mantel um so reichlichere Nahrung. Seit dieser Zeit schien es, als ob seine Natur sich vervollständigt, als ob er geheiratet[21] hätte, als besäße er eine Genossin, die ihn auf seinem Lebenswege begleitete – und diese Genossin war das Bild seines Mantels, den er, ordentlich wattiert und gefüttert, vor sich sah.
Von jetzt an trat er lebhafter und fester auf, wie ein Mann, der sich sein Ziel gesetzt hat, das er unbedingt erreichen will. Seine schlaffen Züge, der haltlose Gang, die unsichern Bewegungen – das alles war verschwunden. Bisweilen strahlte ein ganz neuer Glanz aus seinen Augen, und in seinen kühnen Träumen legte er sich sogar die Frage vor, ob er sich nicht einen Marderkragen an seinen Mantel sollte machen lassen.
Durch solche und ähnliche Gedanken wurde er manchmal eigentümlich zerstreut. Als er eines Tages Akten kopierte, bemerkte er mit einemmal, daß er einen Fehler gemacht hatte ... »O, o!« rief er aus, und machte hastig das Zeichen des Kreuzes.
Wenigstens einmal monatlich begab er sich zu Petrowitsch, um sich mit ihm über den kostbaren Mantel zu unterhalten und mehrere wichtige Fragen mit ihm zu besprechen, nämlich wo und zu welchem Preise er das Tuch kaufen und welche Farbe er am besten wählen sollte.
Jeder dieser Besuche gab Anlaß zu neuen Betrachtungen, und Akaki kehrte stets glücklicher in seine Wohnung zurück, da ja nun endlich der Tag kommen mußte, wo alles gekauft war, wo der Mantel fix und fertig bereitlag.
Dieses große Ereignis trat früher ein, als er gehofft hatte. Der Direktor gab ihm eine Gratifikation nicht von vierzig, auch nicht von fünfzig, sondern von fünfundsechzig Rubeln. Dieser würdige Beamte hatte gemerkt, daß unser Freund Akaki eines Mantels bedurfte – oder hatte er diese Ausnahme nur einem glücklichen Zufall zu danken?[22]
Wie dem auch sei, Akaki war um fünfundzwanzig Rubel reicher. Eine solche Vermehrung seiner Hilfsquellen mußte notwendigerweise sein denkwürdiges Unternehmen beschleunigen.
Nur noch zwei bis drei Hungermonate, und Akaki hatte seine achtzig Rubel beieinander. Sein sonst so ruhiges Herz begann heftig zu pochen. Sobald er die ungeheure Summe von achtzig Rubeln vollständig zusammen hatte, suchte er Petrowitsch auf, und beide begaben sich in einen Tuchladen.
Ohne Zaudern kauften sie ein sehr gutes Stück Tuch. Seit länger als einem halben Jahr hatten sie unaufhörlich darüber nachgedacht und debattiert, und allmonatlich waren sie in den Läden umhergegangen, um sich nach dem Preise zu erkundigen. Petrowitsch klopfte auf den Stoff und erklärte, ein besserer sei gar nicht zu finden. Zum Futter nahmen sie festen und dicht gewebten Leinwandstoff, der nach der Behauptung des Schneiders besser war als Seide; und dann glänzte er so hell! Marderpelz kauften sie nicht, weil er zu teuer war; sie entschieden sich für den besten Katzenbalg, der im Laden war, einen Pelz, den man ganz, gut für Marder halten konnte.
Zur Anfertigung des Kleidungsstückes gebrauchte Petrowitsch volle vierzehn Tage; er machte eine unzählbare Menge von Stichen, sonst wäre er schneller damit fertig gewesen. Er taxierte seine Arbeit auf zwölf Rubel; weniger konnte er nicht fordern; alles war fein mit Seide genäht, und der Schneider bügelte die Nähte mit den Zähnen, daß die Spuren davon noch zu sehen waren.
Endlich kam er, der so heißersehnte Mantel ...
Ich kann den Tag nicht ganz genau angeben, aber ganz gewiß war es der feierlichste in Akakis Leben. Der Schneider brachte also den Mantel. Er brachte ihn frühmorgens, bevor der Titularrat sich in sein Büro[23] begeben mußte. In einem passenderen Augenblick hätte er nicht kommen können, denn die Kälte begann sich sehr lebhaft fühlbar zu machen.
Petrowitsch nahte mit der würdevollen Miene eines bedeutenden Schneiders. Sein Gesicht hatte einen eigentümlich ernsten Ausdruck – so hatte ihn der Titularrat noch nie gesehen. Er war sich seines Wertes voll bewußt und maß in Gedanken mit Stolz den Abgrund, der den Handwerker, der nur alte Kleider ausbessert, von dem Künstler scheidet, der neue anfertigt.
Der Mantel war in ein erst vor kurzem gewaschenes Tuch gewickelt, das der Schneider sorgfältig aufknüpfte und wieder zusammenlegte, um es dann in die Tasche zu stecken. Hierauf nahm er stolz den Mantel zwischen beide Hände und legte ihn Akaki Akakjewitsch auf die Schultern. Dann zog er ihn hinten zurecht, um zu sehen, wie er majestätisch in seiner ganzen Länge herabwallte. Endlich wollte er den Eindruck beurteilen, den er in nicht zugeknöpftem Zustande machte. Akaki jedoch wünschte die Ärmel zu probieren, und diese Ärmel saßen wundervoll. Mit einem Wort, der Mantel war tadellos, und der Schnitt ließ nichts zu wünschen übrig.
Indem der Schneider sein Werk betrachtete, verfehlte er nicht zu sagen, daß, wenn er den Mantel für einen so niedrigen Preis gemacht habe, das nur deshalb geschehen sei, weil er bloß eine bescheidene Miete zu bezahlen habe und er Akaki Akakjewitsch seit langer Zeit kenne; dann hob er stolz hervor, daß ein auf dem Newskiprospekt wohnender Schneider mindestens fünfundsechzig Rubel für die Anfertigung eines solchen Mantels gefordert haben würde. Der Titularrat wollte sich über diesen Gegenstand nicht in eine Debatte mit ihm einlassen. Er bezahlte, dankte ihm und ging dann fort, um sich in sein Büro zu verfügen.
Petrowitsch ging mit ihm hinaus und blieb unten[24] auf der Straße stehen, um ihn so lange wie möglich mit seinem Mantel gehen zu sehen, worauf er dann in aller Hast durch ein Quergäßchen eilte, um den Titularrat noch einmal ins Auge zu fassen.
Mit den angenehmsten Gedanken beschäftigt, begab sich Akaki in sein Büro. Jeden Augenblick fühlte er, daß er ein neues Kleidungsstück auf den Schultern hatte, und lächelte mit süßer Genugtuung in sich hinein.
Zwei Gedanken gingen ihm durch den Kopf: zunächst, daß der Mantel warm, und zweitens, daß er schön war. Ohne auf dem Wege, den er zurücklegte, irgend etwas zu bemerken, schritt er in gerader Linie auf die Kanzlei zu, legte seinen Schatz im Vorzimmer ab, betrachtete ihn von allen Seiten und sah dann den Portier mit einer ganz besonderen Miene an.
Ich weiß nicht, ob sich das Gerücht in den Büros verbreitet hatte, die alte Kapuze habe aufgehört zu existieren. Sämtliche Kollegen eilten herbei, um Akakis prachtvollen Mantel zu prüfen, und begannen ihn in einer Weise zu beglückwünschen, daß er anfangs mit einem Gefühl der Genugtuung lächeln mußte, dann aber in eine gewisse Verlegenheit geriet.
Wie groß war aber seine Überraschung, als seine grausamen Kollegen die Bemerkung machten, Akaki müsse seinen Mantel in feierlicher Weise einweihen und ihnen einen Schmaus geben. Der arme Akaki war so verdutzt und bestürzt, daß er nicht wußte, was er antworten, wie er sich entschuldigen sollte. Errötend stotterte er, das Kleidungsstück sei nicht so neu, wie man vielleicht glaube, es sei ein ganz alter Stoff verwendet.
Da nahm einer seiner Vorgesetzten, der wahrscheinlich beweisen wollte, daß er auf seinen Rang und Titel nicht allzu stolz sei und es keineswegs verschmähe, mit seinen Unterbeamten zu verkehren, das Wort und[25] sagte: »Meine Herren! Statt unseres Akaki Akakjewitsch werde ich Sie zu einem kleinen Mahl vereinen; ich lade Sie hiermit ein, heut abend bei mir den Tee zu trinken. Es ist heute grade mein Geburtstag.«
Sämtliche Beamten dankten ihrem Vorgesetzten für sein Wohlwollen und nahmen die Einladung freudig an. Akaki wollte ablehnen; aber es wurde ihm gesagt, das wäre eine grobe Unhöflichkeit, ein unverzeihliches Benehmen, und so fügte er sich denn endlich in das Unvermeidliche.
Übrigens empfand er eine gewisse Freude bei dem Gedanken, daß sich ihm auf diese Weise Gelegenheit bot, mit seinem neuen Mantel über die Straße zu gehen. Dieser ganze Tag war für ihn ein Festtag. In der glücklichsten Stimmung kehrte er in seine Wohnung zurück, nahm seinen Mantel ab und hängte ihn, nachdem er das Tuch und Futter noch einmal untersucht hatte, an die Wand. Dann suchte er seine alte Kapuze hervor, um sie mit Petrowitschs Meisterwerk zu vergleichen. Seine Blicke schweiften von dem einen Kleidungsstück zum andern, und lächelnd dachte er: »Welch ein Unterschied!«
Fröhlich nahm er sein Mittagessen zu sich, und nach beendeter Mahlzeit setzte er sich nicht hin, um Kopien anzufertigen – nein, er setzte sich wie ein Sybarit auf das Sofa und erwartete den Abend. Dann machte er Toilette, nahm seinen Mantel und ging aus.
Wo der Vorgesetzte wohnte, der in so liberaler Weise seine Unterbeamten zu sich eingeladen, vermag ich nicht zu sagen. Mein Gedächtnis beginnt etwas schwach zu werden, und die unzähligen Straßen und Häuser Petersburgs gehen mir so wirr im Kopf herum, daß ich Mühe habe, mich darin zurechtzufinden. Nur so viel steht fest, daß der ehrenwerte Beamte in einem schönen Viertel unserer Hauptstadt und also sehr weit von Akaki Akakjewitsch wohnte.[26]
Anfangs durchschritt der Titularrat mehrere schlecht beleuchtete Straßen, die ganz leer erschienen. Aber je mehr er sich der Wohnung seines Vorgesetzten näherte, um so glänzender, belebter wurden die Straßen; es begegneten ihm unzählige Passanten und elegant gekleidete schöne Damen und Männer mit Biberkragen. Die Bauernschlitten mit ihren Holzbänken und ihren Bronzeköpfen zeigten sich immer seltener, während er jeden Augenblick gewandte Kutscher mit Samtmützen gewahrte, die lackierte und mit Bärenfellen ausgelegte Schlitten und prachtvolle Wagen lenkten.
Unserm Akaki war ein solches Schauspiel ganz neu. Schon seit vielen Jahren war er abends niemals ausgegangen. Neugierig blieb er vor dem Schaufenster eines Kunsthändlers stehen. Namentlich eines der Bilder zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Es stellte eine Frau dar, die ihren Schuh auszog und einen hübschen Fuß zeigte, während ein junger Mann durch eine halbgeöffnete Tür sie beobachtete – ein junger Mann mit großem Schnurr- und Backenbart.
Nachdem Akaki Akakjewitsch dieses französische Bild angesehen hatte, schüttelte er den Kopf und ging lächelnd weiter. Warum lächelte er denn? Weil er ein ihm ganz neues Bild gesehen? Oder glaubte er wie die meisten seiner Kollegen, die Franzosen hätten doch merkwürdige Einfälle? Vielleicht dachte er gar nichts, und kann man dem Menschen ins Herz sehen, um zu entdecken, was er denkt?
Da ist er endlich an dem Hause angekommen, in das man ihn eingeladen. Sein Vorgesetzter wohnt ganz prachtvoll; an seiner Tür befindet sich eine Laterne, und er hat den ganzen zweiten Stock inne. Als Akaki in das Vorzimmer trat, bemerkte er eine lange Reihe von Galoschen; auf einem Tisch rauchte und pfiff eine Teemaschine; an der Wand hingen die Mäntel, von denen mehrere mit Samt- oder Pelzkragen geziert[27] waren. In dem anstoßenden Zimmer hörte er ein wirres Geräusch, das einen etwas bestimmteren Charakter annahm, als ein Diener die Tür öffnete und mit einem Brett voll leerer Tassen, einem Milchtopf und einem Biskuitkörbchen herauskam. Augenscheinlich waren die Gäste schon lange anwesend und hatten bereits ihre erste Tasse Tee geleert.
Nachdem Akaki seinen Mantel an einen Haken gehängt, trat er auf das Zimmer zu, in dem seine mit langen Pfeifen bewaffneten Kollegen sich um Spieltische gruppiert hatten und ziemlich viel Lärm machten.
Er trat also ein, blieb jedoch unmittelbar an der Tür stehen, da er nicht wußte, was er anfangen sollte; aber seine Kollegen begrüßten ihn mit lauten Zurufen und eilten in das Vorzimmer, um seinem Mantel zu huldigen. Den wackern Titularrat brachte dieser Auftritt ganz aus der Fassung. Doch freute er sich in seiner Herzenseinfalt über die Lobsprüche, die seinem kostbaren Kleidungsstück gespendet wurden. Bald darauf gaben die Kollegen ihm seine Freiheit wieder und setzten ihre Whistpartien fort.
Die Bewegung, die Aufregung, die lebhafte Unterhaltung beunruhigten das schüchterne Gemüt Akakis im höchsten Grade. Er wußte nicht einmal, was er mit seinen Händen anfangen, wo er sie hinlegen oder -stecken sollte; endlich setzte er sich zu den Spielern, betrachtete bald ihre Gesichter, bald die Karten, bald gähnte er, denn er fühlte, daß der Zeitpunkt schon längst vorüber sei, wo er sich täglich zu Bett legte. Er wollte nach Hause gehen, aber man hielt ihn zurück und erklärte ihm, er könne sich nicht entfernen, ohne wenigstens an diesem für ihn so denkwürdigen Tage ein Glas Champagner getrunken zu haben.
Bald wurde das Abendessen aufgetragen. Es bestand aus kalter Fleischbrühe, kaltem Kalbfleisch, Kuchen und verschiedenem Gebäck, dies alles begleitet von[28] mehreren Flaschen Champagner. Akaki sah sich genötigt, zwei große Gläser dieser prickelnden Flüssigkeit auszutrinken, worauf sich alles um ihn her in einer freundlicheren Gestalt zeigte. Doch konnte er nicht vergessen, daß es schon zwölf Uhr nachts war und daß er sich eigentlich bereits mehrere Stunden in seinem Bett befinden müßte.
Aus Furcht, noch einmal zurückgehalten zu werden, schlüpfte er verstohlen in das Vorzimmer, wo er mit Schmerz seinen Mantel am Boden liegen sah. Sorgfältig schüttelte er ihn, zog ihn an und ging fort.
Draußen brannten noch Lichter. Die kleinen, von Dienern und dem untern Volk besuchten Schenken waren teils noch offen, teils eben erst geschlossen worden. Aber an dem hellen Licht, das an ihren Türen brannte, war leicht zu ersehen, daß sich dort noch Leute befanden – wahrscheinlich sogar Diener und Dienstmädchen, die sich wenig Sorge um ihre Herrschaft machten.
In fröhlicher Gemütsstimmung schlug Akaki Akakjewitsch die Richtung nach Hause ein. Plötzlich bemerkte er, daß er sich in einer langen Straße befand, in der es am Tage und noch mehr des Nachts ganz still war. Alles um ihn herum hatte ein finsteres Aussehen. Nur da und dort eine Laterne, die aus Mangel an Öl zu erlöschen drohte, hölzerne Häuser, Bretterzäune, aber nirgends eine lebende Seele. Bei dem fahlen Scheine dieser halb erloschenen Laternen schimmerte nur noch der Schnee auf der Straße, und trübselig nahmen sich die in Dunkel gehüllten, kleinen Gebäude aus. Er ging auf eine Stelle zu, wo die Straße auf einen ungeheuren Platz mündete, an dessen anderer Seite die Häuser kaum zu sehen waren und der sich wie eine schreckliche Wüste ausnahm.
In der Ferne, Gott weiß wo, schimmerte die Laterne eines Schilderhauses, das ihm am Ende der Welt zu[29] stehen schien. In demselben Augenblick verließ den Titularrat seine freudige Stimmung. Er ging mit beklommener Brust auf die Stelle zu; es war ihm, als drohte ihm ein Unheil. Unterwegs blickte er beständig voll Schrecken um sich. Der trübselige Platz sah ihm aus wie ein wilder Ozean. Nein, dachte er, ich will lieber nicht hinsehen; und nun setzte er seinen Weg gesenkten Blickes fort; als er seine Augen wieder erhob, sah er plötzlich mehrere Männer mit langen Schnurrbärten vor sich, deren Gesichter er nicht zu unterscheiden vermochte. Es ward ihm dunkel vor den Augen, das Herz schnürte sich ihm zusammen.
»Da ist mein Mantel!« schreit einer der Männer und packt Akaki am Kragen.
Akaki will um Hilfe rufen. Ein anderer drückt ihm eine große knochige Faust auf den Mund und sagt zu ihm: »Versuch's nur zu schreien!«
In demselben Augenblick fühlte der unglückliche Titularrat, daß ihm der Mantel fortgenommen wurde, und zugleich erhielt er einen Fußtritt, daß er bewußtlos in den Schnee fiel.
Einige Augenblicke später kam er wieder zu sich und stand auf; aber kein Mensch war mehr zu sehen. Seines Kleidungsstückes beraubt und ganz durchfroren, begann er aus aller Macht zu schreien, aber sein Rufen vermochte nicht ans Ende des Platzes zu dringen. In einemfort schreiend lief er mit der Wut der Verzweiflung nach dem Schilderhaus zu dem Wachtsoldaten, der, die Arme auf seine Hellebarde gestützt, ihn schon von weitem fragte, warum zum Teufel er denn einen solchen Höllenlärm mache und so schnell herangelaufen komme.
Als Akaki ihn erreicht hatte, beschuldigte er den Soldaten, er sei betrunken, da er nicht gesehen habe, daß in kurzer Entfernung von seinem Posten die Vorübergehenden geplündert würden.[30]
»Ich habe Sie sehr wohl gesehen«, antwortete der Mann, »mitten auf dem Platz mit zwei Männern, ich glaubte, ihr wäret Freunde. Es hat keinen Zweck, sich so aufzuregen. Gehen Sie morgen zu dem Polizeiinspektor, der wird dann die Sache in die Hand nehmen, nach den Dieben forschen und eine Untersuchung einleiten.«
Was beginnen?
Der unglückliche Titularrat langte in schrecklicher Unordnung in seiner Wohnung wieder an; das Haar hing ihm wirr über die Stirn. Seine Kleider waren mit Schnee bedeckt. Als seine alte Wirtin so ungestüm an die Tür pochen hörte, sprang sie schnell auf und eilte, nur halb angekleidet, herbei, fuhr aber bei Akakis Anblick erschreckt zurück.
Als er ihr erzählt hatte, was geschehen war, schlug sie die Hände zusammen und rief aus: »Nicht an den Polizeiinspektor müssen Sie sich wenden, sondern an den Reviervorstand. Der Inspektor wird Sie mit schönen Worten abspeisen und nichts in der Sache tun. Aber der Reviervorstand – den kenne ich seit langer Zeit. Meine frühere Köchin Anna ist jetzt in seinem Dienst, und ich sehe ihn oft unter unseren Fenstern vorübergehen. Er geht alle Festtage in die Kirche, und man sieht es ihm sofort an, daß er ein braver Mann ist.«
Nach dieser beredten Erzählung zog sich Akaki traurig in sein Zimmer zurück. Wer sich eine solche Lage vorzustellen vermag, wird begreifen, was für eine Nacht er verlebte.
Gleich am andern Morgen begab er sich zu dem Reviervorstand. Es wurde ihm der Bescheid, der Beamte schlafe noch. Gegen zehn Uhr kam er wieder. Der ehrenwerte Beamte schlief immer noch. Gegen zwölf Uhr war er ausgegangen. Um die Essenszeit stellte sich der Titularrat noch einmal vor; aber die[31] Schreiber fragten ihn streng, was für eine Angelegenheit ihn denn zu ihrem Vorgesetzten führe. Da, zum ersten Male in seinem Leben, zeigte Akaki einen energischen Charakter. Er erklärte, er müsse unbedingt den Reviervorstand sprechen, und man möge nur ja nicht versuchen, ihn daran zu verhindern, denn es handle sich um eine offizielle Angelegenheit, und wer sich erkühnen wolle, ihm die geringste Schwierigkeit in den Weg zu legen, dem würde es teuer zu stehen kommen.
Auf eine solche Sprache war nichts zu erwidern. Einer der Schreiber entfernte sich, um ihn seinem Vorgesetzten zu melden. Dieser hörte Akakis Erzählung in etwas seltsamer Weise an. Statt sich an die Hauptsache, das heißt an den Diebstahl, der begangen worden, zu halten, fragte er den Titularrat, wie er dazu komme, sich so spät auf der Straße zu befinden, und ob er nicht in einem verdächtigen Hause gewesen sei.
Durch solche Fragen verblüfft, wußte der Titularrat nicht, was er antworten sollte, und zog sich wieder zurück, ohne zu wissen, ob in seiner Sache etwas getan würde oder nicht.
Den ganzen Tag war er nicht in seinem Büro gewesen – ein völlig unerhörtes Ereignis in seinem Leben. Am folgenden Tage erschien er dort wieder mit bleichem Gesicht, unruhig in seinem alten Rock, der erbärmlicher denn je aussah. Als seine Kollegen von dem Unglück hörten, das ihn betroffen, waren einige noch grausam genug, darüber zu lachen; die meisten jedoch fühlten ein aufrichtiges Bedauern und veranstalteten eine Subskription zu seinen Gunsten. Allein dieses löbliche Unternehmen hatte nur einen ganz unbedeutenden Erfolg, weil dieselben Beamten erst vor kurzem zu zwei anderen Subskriptionen beigesteuert hatten. In dem einen Fall, um das Porträt ihres Direktors anzuschaffen, und in dem andern, um ein Werk zu erwerben, das ein Freund ihres Chefs veröffentlicht hatte.[32]
Einer von ihnen, der für Akaki aufrichtiges Mitleid empfand, wollte ihm dann in Ermangelung von etwas Besserem einen guten Rat geben. Er sagte ihm, es wäre verlorene Mühe, noch einmal zu dem Reviervorstand zu gehen, weil selbst in dem Falle, daß dieser Beamte so glücklich sein sollte, den Mantel wiederzuerlangen, die Polizei ihn so lange behalten würde, bis der Titularrat unzweideutig bewiesen habe, daß er der wirkliche Eigentümer sei. Er forderte ihn auf, sich an eine gewisse hochstehende Persönlichkeit zu wenden, welche hochstehende Persönlichkeit durch ihre guten Beziehungen die Sache bei den Behörden schneller betreiben könnte.
In seiner Verwirrung entschloß sich Akaki, diesen Rat zu befolgen. Welche Stellung diese Persönlichkeit bekleidete, und wie hoch sie eigentlich stehe, wußte man nicht. Es war weiter nichts bekannt, als daß die Persönlichkeit erst ganz vor kurzem zu ihrem hohen Amte gelangt sei. Soviel stehe ferner fest, daß es noch höhere Persönlichkeiten gebe, da dieser Beamte alle möglichen Hebel in Bewegung setze, um noch höher emporzukommen. So nötigte er andere Beamte, wenn er sich in sein Kabinett begab, unten an der Treppe auf ihn zu warten, und niemand konnte direkt zu ihm gelangen. Der Kollegiensekretär teilte das Gesuch dem Regierungssekretär mit, der es einem höheren Beamten zustellte, und dieser endlich übergab es der hohen Persönlichkeit selbst.
Das ist der Geschäftsgang in unserem heiligen Rußland. In dem Bestreben, es dem höheren Beamten gleichzutun, äfft jeder die Manieren seiner Vorgesetzten nach. Vor kurzem setzte ein Titularrat, der zum Vorsteher eines kleinen Büros ernannt worden war, sofort über eines seiner Stübchen die Aufschrift: Beratungssaal. Dort befanden sich Diener mit roten Kragen und Stickereien an den Kleidern, um die Bittsteller[33] anzumelden und in den Saal zu führen, der so eng war, daß kaum ein Stuhl darin stehen konnte.