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Abschnitt 33 / 3
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Der Mantel

Aber kehren wir zu der hochstehenden Persönlichkeit zurück. Ihr Verfahren war würdevoll imponierend, aber ein wenig verwickelt. Das System ließ sich in ein einziges Wort zusammenfassen: Strenge, Strenge, Strenge. Dieses klangvolle Wort wiederholte er dreimal nacheinander, und das letztemal sah er den, mit dem er's zu tun hatte, durchdringend an. Er hätte es sich vollkommen sparen können, soviel Energie an den Tag zu legen, denn die zehn Beamten, die seinem Befehl zu gehorchen hatten, fürchteten ihn ohnehin schon genug. Sowie sie ihn von fern kommen sahen, beeilten sie sich, ihre Federn hinzulegen, und sprangen herbei, um sich respektvoll dort, wo er vorüberkam, aufzustellen. In den Gesprächen mit seinen Untergebenen beobachtete er eine stolze, erhabene Haltung und sagte kaum etwas anderes als die Worte: »Was wollen Sie? Wissen Sie auch, mit wem Sie reden? Bedenken Sie auch, wer vor Ihnen steht?« Im übrigen war er ein gutmütiger Mensch, freundlich und liebenswürdig gegen seine Freunde. Nur hatte ihm der Generalstitel den Kopf verdreht. Seit dem Tage, da er ihm beigelegt worden, lebte er den größten Teil des Tages in einer Art Schwindel; bei seinesgleichen jedoch gewann er wieder das Gleichgewicht, und dann ließ sich nicht verkennen, daß es ihm in mehr als einer Beziehung nicht an Liebenswürdigkeit fehlte. Aber sobald er sich in einer Gesellschaft mit einer Persönlichkeit zusammenfand, die einen geringeren Rang bekleidete als er, verschanzte er sich hinter eine strenge Schweigsamkeit, und diese Lage war ihm um so peinlicher, als er sehr wohl fühlte, daß er seine Zeit eigentlich angenehmer verleben konnte. Allen, die ihn in einem solchen Augenblick beobachteten, war es unzweifelhaft, daß er vor Verlangen[34] brannte, sich an einer interessanten Unterhaltung zu beteiligen, aber die Furcht, irgendwelche unvorsichtige Zuvorkommenheit an den Tag zu legen, zu vertraulich zu erscheinen und dadurch seine Würde schwer zu schädigen, hielt ihn zurück. Um sich einer solchen Gefahr zu entziehen, bewahrte er eine außerordentliche Zurückhaltung und sprach nur von Zeit zu Zeit irgendein einsilbiges Wort. Kurz, er hatte es so weit gebracht, daß man ihn den Langweiligen nannte, und diesen Titel hatte er durchaus verdient. So war die Persönlichkeit, deren Hilfe der bescheidene Akaki in Anspruch nehmen sollte. Der Augenblick, in dem er seinen Schritt unternahm, schien ganz besonders dazu ausersehen, der Eitelkeit des Generals zu schmeicheln, und mußte doch zugleich der Sache des Titularrats günstig sein. Die hohe Persönlichkeit befand sich in ihrem Kabinett und plauderte fröhlich mit einem alten Freunde, den er seit mehreren Jahren nicht gesehen hatte, als ihm gemeldet wurde, daß ein Herr Baschmatschkin um die Ehre bitte, bei Seiner Exzellenz vorgelassen zu werden. »Wer ist der Mann?« fragte die hohe Persönlichkeit in verächtlichem Tone. »Ein Beamter«, antwortete der Bote. »Soll warten! Habe jetzt keine Zeit, ihn zu empfangen.« Der edle Beamte log, es hinderte ihn gar nichts, die verlangte Audienz zu gewähren. Sein Freund und er hatten bereits verschiedene Gesprächsstoffe völlig erschöpft. Schon mehr als einmal waren lange Gesprächspausen eingetreten, in denen sie sich leicht auf die Schultern geklopft mit den Worten: »So also war es, mein Lieber.« – »Jawohl, Stephan.« Aber der General weigerte sich, den Bittsteller zu empfangen, um seinem Freunde, der den Dienst quittiert[35] hatte und auf dem Lande lebte, seine Bedeutung als General zu beweisen und um ihm zu zeigen, daß die Beamten im Vorzimmer warten müßten, bis es ihm beliebe, sie zu empfangen. Endlich, nachdem sie noch verschiedene andere Dialoge geführt und noch einige weitere Pausen überstanden hatten, während derer die beiden Freunde sich in ihren Sesseln zurückgelehnt und den Zigarrenrauch in die Luft geblasen hatten, schien der General sich plötzlich zu erinnern, daß man ihn um eine Audienz ersucht habe. Er rief den Sekretär, der mit verschiedenen Papieren an der Tür stand, herbei und befahl ihm, den Bittsteller eintreten zu lassen. Als er Akaki mit seinem demütigen Gesicht und seiner alten Uniform sich nähern sah, wandte er sich plötzlich nach ihm um und sagte: »Was wollen Sie?« – und zwar mit sehr strenger Stimme, der er noch einen vibrierenden Klang zu geben suchte, den er sich acht Tage, bevor er seinen pomphaften Generalstitel erhalten, vor seinem Spiegel einexerziert hatte. Durch diese rauhe Anrede wurde der schüchterne Akaki völlig verblüfft. Doch machte er eine Anstrengung, um wieder einige Haltung zu gewinnen und zu erzählen, wie ihm sein Mantel gestohlen worden, nicht ohne seinen Bericht mit einer Menge Einzelheiten zu überladen. Er fügte hinzu, er wende sich an Seine Exzellenz, in der Hoffnung, daß durch deren wohlwollende Fürsprache bei dem Polizeipräsidenten oder irgendeiner andern hohen Persönlichkeit der Mantel wieder zum Vorschein kommen würde. Der General fand dieses Verfahren ein wenig unbürokratisch. »He, mein Herr!« sagte er, »wissen Sie nicht, welche Schritte Sie in einem solchen Falle zu tun haben? Woher kommen Sie denn? Wissen Sie nicht, welchen Geschäftsgang[36] die Dinge nehmen? Sie hätten in der Kanzlei einen Antrag einreichen müssen; der wäre dann in die Hände des Bürovorstehers und hierauf in die des Bürodirektors gelangt, worauf er dann durch meinen Sekretär vorgetragen worden wäre, und mein Sekretär würde Ihnen dann« – – »Gestatten Sie mir«, versetzte Akaki, eine ungeheure Anstrengung machend, um das Wenige an Geistesgegenwart, das er noch besaß, zu bewahren, denn er fühlte, daß der Schweiß ihm über die Stirn floß, »gestatten mir Ew. Exzellenz die Bemerkung, daß, wenn ich gewagt habe, Sie in dieser Angelegenheit zu belästigen, daß – daß die Sekretäre – – die Sekretäre Leute sind, von denen nichts zu hoffen ist.« »Was, wie! Ist es möglich!« rief der General. »Wie können Sie eine solche Sprache führen? Wo haben Sie sich solche Vorstellungen angeeignet? Das ist schändlich, junge Leute sich so gegen ihre Vorgesetzten empören zu sehen!« In seinem Amtseifer bemerkte der General nicht, daß der Titularrat hoch in den Fünfzigern stand und daß ihm das Beiwort jung nur bedingungsweise, das heißt im Vergleich mit einem Manne von etwa siebzig Jahren, zukam. »Wissen Sie auch«, fuhr er fort, »mit wem Sie reden? Bedenken Sie, vor wem Sie hier stehen? Bedenken Sie das? Ich frage Sie, bedenken Sie das?« Und indem er diese Worte sprach, stampfte er mit dem Fuße, und seine Stimme nahm eine furchtbare Klangfülle an. Akaki war ganz bestürzt, ja geradezu entsetzt; er zitterte und bebte und vermochte sich kaum aufrechtzuhalten; ohne einen Bürodiener, der ihm zu Hilfe eilte, wäre er zu Boden gefallen, und fast bewußtlos wurde er fortgeschleppt. Der General jedoch war ganz entzückt über die Wirkung,[37] die er erzielt – sie übertraf alle seine Erwartungen; und voll Genugtuung darüber, daß seine Worte auf einen schon bejahrten Mann einen solchen Eindruck zu machen vermochten, daß er das Bewußtsein verlor, warf er einen Seitenblick auf seinen Freund, um zu sehen, welche Wirkung der Auftritt auf ihn gemacht hatte. Welche Genugtuung empfand er, als er bemerkte, daß sogar sein Freund bewegt war und ihn schüchtern anblickte. Wie Akaki die Treppe hinuntergelangte und wie er über die Straße schritt, darüber vermochte er sich selbst keine Rechenschaft zu geben, denn er fühlte sich mehr tot als lebendig. In seinem ganzen Leben war er noch, nicht von einem General getadelt worden, und noch dazu von einem fremden General. Er wanderte in dem Sturm, der draußen wütete, dahin, ohne die mindeste Vorsicht zu beobachten, ohne sich auf dem Bürgersteige irgendwie gegen die Unbilden des Wetters zu schützen. Der Wind, der von allen Seiten und aus allen Gäßchen herausblies, entzündete ihm die Kehle. Zu Hause angelangt, war er außerstande, ein Wort zu sprechen. Er legte sich zu Bett. Eine solche Wirkung hatte die Lektion des Generals hervorgebracht. Am folgenden Tage hatte Akaki ein heftiges Fieber. Dank dem Petersburger Klima entwickelte sich seine Krankheit mit furchtbarer Schnelligkeit. Als der Arzt kam, waren schon alle Heilmittel vergeblich. Nachdem der ehrenwerte Doktor ihm den Puls gefühlt, verordnete er einige Breiumschläge, und zwar lediglich, um ihn nicht ohne die Mitwirkung der Medizin sterben zu lassen, und erklärte zugleich, der Patient habe nur noch zwei Tage zu leben. Nach diesem Ausspruch sagte er zu Akakis Wirtin: »Sie haben keine Zeit mehr zu verlieren, bemühen Sie sich um einen Fichtensarg, denn für diesen armen[38] Mann würde ein Sarg aus Eichenholz zu kostspielig werden.« Ob der Titularrat diese Worte vernahm, ob sie ihn in eine heftige Erregung versetzten, und ob er sein unglückseliges Dasein beklagte, das hat niemals ein Mensch erfahren, denn er phantasierte beständig. Seltsame Erscheinungen gingen ihm unaufhörlich durch das geschwächte Hirn. Bald sah er sich Petrowitsch gegenüber, und er bat ihn, ihm einen Mantel mit Schlingen für die Diebe zu machen, die ihn in seinem Bette verfolgten; und er bat seine alte Wirtin, die Räuber zu verjagen, die sich unter seiner Decke versteckten. Bald stand er vor dem General, hörte seine strenge Strafrede an und bat seine Exzellenz um Vergebung. Dann wieder verstrickte er sich in so seltsame Reden, daß die brave alte Frau sich entsetzt bekreuzigte. Nie im Leben hatte sie so etwas gehört, und die ungeheuerlichen Phantasien setzten sie um so mehr in Erstaunen, als beständig der Titel Exzellenz darin vorkam. Dann murmelte er wirre zusammenhanglose Worte, nur daß die Phantasien des armen Kranken sich beständig um einen Mantel drehten. Endlich hauchte Akaki seinen letzten Seufzer aus. Weder sein Zimmer noch sein Schrank wurden versiegelt, aus dem einfachen Grunde, weil er keinen Erben hatte und nichts anderes zurückließ als ein Bündel Gänsefedern, ein Heft mit weißem Papier, drei Paar Strümpfe, einige Hosenknöpfe und den alten Rock. Wem fiel diese Hinterlassenschaft zu? Gott mag's wissen. Der Verfasser dieser Geschichte hat nie danach geforscht. Akaki wurde in ein Leichentuch gehüllt und auf dem Friedhofe beigesetzt. Die große Stadt Petersburg lebte ganz in der alten Weise weiter, als hätte er niemals existiert. So verschwand ein menschliches Wesen, das weder Beschützer noch Freunde gehabt, das niemand[39] eine wirkliche herzliche Teilnahme eingeflößt, das nicht einmal die Neugier der Naturforscher erregt hatte, die doch so eifrig bemüht sind, ein seltenes Insekt auf die Nadel zu spießen, um es mikroskopisch zu untersuchen. Ohne einen Klageton hatte dieses Wesen den Hohn und Spott seiner Kollegen ertragen. Ohne daß ihm ein außerordentliches Ereignis zugestoßen war, war es seinen Weg zum Grabe gewandelt; nur gegen sein Lebensende hatte ein Mantel es in jugendliche Aufregung versetzt, dann hatte das Unglück es zu Boden geschleudert. Einige Tage nach seiner Unterredung mit dem General schickte sein Vorgesetzter, da niemand in der Kanzlei wußte, was aus ihm geworden, einen Bürobedienten zu ihm mit dem Befehl, sich sofort auf seinen Posten zu begeben. Der Bürobediente kam mit der Nachricht zurück, man würde den Titularrat nie wieder zu sehen bekommen. »Warum denn nicht?« fragten alle. »Weil er vor vier Tagen begraben ist.« Auf diese Weise erfuhren Akakis Kollegen seinen Tod. Am folgenden Tage war seine Stelle mit einem Beamten von einer etwas robusteren Natur besetzt, mit einem Manne, der sich nicht so viel Mühe gab, schöne Abschriften von den Akten zu fertigen ... * Es hat den Anschein, als sei Akakis Geschichte hier zu Ende und als hätten wir nichts mehr von ihm zu berichten. Allein der bescheidene Titularrat war dazu ausersehen, nach seinem Tode mehr Aufsehen zu machen als während seines Lebens, und jetzt nimmt unsere Erzählung eine phantastische Wendung. Eines Tages verbreitete sich in Petersburg die Nachricht,[40] in der Nähe der Katinkabrücke erscheine allnächtlich ein Toter in einer Uniform, wie sie die Beamten der Kanzleien trügen, und dieser Tote suche einen gestohlenen Mantel und nähme ohne alle Rücksicht auf Rang und Titel allen Vorübergehenden die Mäntel ab, mit Watte, Nerz, Katzen-, Ottern-, Bären- und Biberfellen gefütterte, kurz alle, deren er habhaft werden könnte. Einer der früheren Kollegen des Titularrats hatte das Gespenst gesehen und Akaki ganz deutlich erkannt. Mit allen Kräften laufend, war es ihm geglückt zu entkommen; aber noch von ferne hatte er ihn mit der Faust drohen sehen. Überall hörte man, daß Räte, und zwar nicht bloß Titularräte, sondern auch Staatsräte, sich eine bedenkliche Erkältung zugezogen hätten, infolge des an ihren ehrenwerten Schultern begangenen Raubes. Die Polizei traf alle möglichen Maßregeln, um das Gespenst tot oder lebendig in ihre Gewalt zu bekommen und ihm eine exemplarische Strafe aufzuerlegen; aber alle Versuche waren vergebens. Eines Abends jedoch glückte es einem Wachtsoldaten, sich des Übeltäters in dem Augenblick zu bemächtigen, da er einem Musikanten den Mantel wegnehmen wollte. Der Posten ruft sofort zwei Kameraden herbei, denen er den Gefangenen anvertraut, während er seine Tabaksdose sucht, um ihm die halberfrorene Nase wieder zu beleben. Wahrscheinlich war sein Tabak so stark, daß selbst ein Toter den Geruch nicht zu ertragen vermochte. Kaum hatte er seinen Nüstern einige Körnchen anvertraut, als der Gefangene mit solcher Macht zu niesen begann, daß eine Art Nebel die Augen der Wachtsoldaten verhüllte. Während die drei sich die Augenlider rieben, verschwand der Gefangene. Seit diesem Tage hatten alle Wachtsoldaten einen solchen Schrecken vor dem Toten, daß sie nicht einmal mehr die Lebenden zu[41] arretieren wagten und ihnen schon von weitem zuschrien: Geht weiter, weiter! Das Gespenst ging bis jenseits der Katinkabrücke, um seine nächtlichen Räubereien fortzusetzen, und verbreitete in dem ganzen Viertel Schrecken und Entsetzen. Allein jetzt müssen wir zu dem General zurückkehren, der die ursprüngliche Veranlassung unserer phantastischen und doch so wahrhaftigen Geschichte ist. Zunächst müssen wir ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß ihn nach Akakis Fortgehen ein gewisses Mitleid überkam. Das Gerechtigkeitsgefühl war seinem Herzen keineswegs fremd – nein, er hatte sogar verschiedene gute Eigenschaften, nur daß die Vernarrtheit in seinen Titel ihn verhinderte, sich von seiner guten Seite zu zeigen. Als sein Freund ihn verlassen, beschäftigten sich seine Gedanken mit dem unglücklichen Titularrat, und von diesem Augenblick an sah er ihn fortwährend, niedergebeugt durch den strengen Verweis, den er ihm erteilt hatte. Dieses Bild verfolgte ihn derart, daß er endlich eines Tags einen seiner Beamten beauftragte, sich zu erkundigen, was aus Akaki geworden und ob man noch etwas für ihn tun könne. Als der Bote mit der Meldung zurückkehrte, der arme Beamte sei fast unmittelbar nach seiner Audienz gestorben, da empfand der General den Stachel der Gewissensbisse, und den ganzen Tag blieb er in finstere Grübelei versunken. Um seine unangenehmen Empfindungen loszuwerden, begab er sich gegen Abend in das Haus eines Freundes, wo er eine angenehme Gesellschaft und, was die Hauptsache war, auch einige andere Personen als nur Beamte seines Ranges zu finden hoffte, so daß er sich nicht geniert zu fühlen brauchte. Und in der Tat fühlte er sich dort bald von allen[42] melancholischen Gedanken befreit; er wurde lebhaft, er taute auf, mischte sich ohne weiteres in die Unterhaltung und verbrachte einen sehr schönen Abend. Beim Essen trank er zwei Glas Champagner, was, wie jedermann weiß, ein ziemlich wirksames Mittel ist, um wieder in heitere Stimmung zu kommen. Unter dem Einfluß des prickelnden Getränks kam ihm der Gedanke, nicht sofort nach Hause zurückzukehren, sondern einer Dame von deutscher Herkunft, namens Karoline Bengel, zu der er zärtliche Beziehungen unterhielt, einen Besuch zu machen. Ich muß hier hervorheben, daß der imponierende General nicht mehr jung war, ja daß man ihn sogar als einen musterhaften Gatten und ehrenwerten Familienvater betrachtete. Zwei Söhne, von denen der eine bereits in einem Ministerialbüro arbeitete, und eine Tochter von sechzehn Jahren mit einem hakenförmigen Näschen, im übrigen jedoch recht hübsch, kamen jeden Morgen zu ihm in sein Zimmer, um ihm die Hand zu küssen und ihm einen guten Morgen zu wünschen. Seine Frau, die noch eine schöne glänzende Erscheinung war, reichte ihm erst ihre Hand zum Kuß, dann ergriff sie die seine, um sie an ihre Lippen zu drücken. Obwohl er sich in seinen häuslichen Banden sehr glücklich fühlte, glaubte er doch noch in einem anderen Stadtviertel ein zweites zärtliches Band unterhalten zu müssen. Die Frau, der er seinen Überfluß an Zärtlichkeit anbot, war weder liebenswürdiger noch jünger als seine eigene; aber so sind die Rätsel dieses Lebens ... Wir wollen hier nicht den Versuch machen, sie zu lösen. Der General schritt also die Treppe hinab, warf sich in seinen Schlitten und sagte zu dem Diener: »Zu Karoline Bengel.« Sorgfältig in seinen Mantel gehüllt, machte er seinen[43] Besuch in der besten Stimmung, in die ein Russe sich hineinzudenken vermag – in jener Stimmung, in der der Geist sich leicht in einem Kreise von Gedanken bewegt, von denen der eine immer angenehmer ist als der andere und die sich alle ganz ungesucht von selbst bieten. Er dachte an die Abendgesellschaft, in der er einige Stunden so angenehm verlebt, an all die treffenden Worte, durch die er die Gesellschaft in Lachen versetzt hatte. Einige davon wiederholte er sich mit halblauter Stimme und lachte noch einmal darüber. Von Zeit zu Zeit jedoch ward er in seiner glücklichen Stimmung durch einen heftigen Windstoß gestört, der ihn plötzlich aus irgendeiner Ecke her überfiel und ihm einen Haufen Schneeflocken ins Gesicht schleuderte, ihm in die Falten seines Mantels drang und diesen wie ein Segel aufblähte, so daß er genötigt war, alle Kräfte anzuwenden, um ihn auf den Schultern festzuhalten. Plötzlich fühlt er, wie eine mächtige Faust ihn kräftig am Kragen packt. Er wendet sich um, gewahrt ein kleines Männchen in einer alten Uniform und erkennt mit Entsetzen Akakis Gesicht – und dieses Gesicht war so bleich und eingefallen wie das eines Toten. Der Titularrat öffnet den Mund und haucht eine Art Leichengeruch aus; und in demselben Augenblick hört der General mit unaussprechlichem Schaudern die Worte: »Endlich habe ich dich! ... So kann ich dich denn am Kragen packen ... ich muß deinen Mantel haben ... du hast dich nicht um mich gekümmert, da ich in Not war, ja du glaubtest mir noch Verweise geben zu müssen ... Jetzt gib mir mal deinen Mantel her.« Das versetzte dem hohen Würdenträger den Atem. In seinen Büros und namentlich seinen Untergebenen gegenüber war er ein Mann von imposanter Erscheinung[44] – er brauchte nur die Augen auf einen Subalternbeamten zu heften, und alles um ihn herum rief: »Welch ein hoher, vornehmer Beamter!« Aber wie viele hochmütige Beamte, hatte er vom Helden nur den äußeren Schein, und in diesem Augenblick befand er sich in solcher Aufregung, daß er ernstlich für seine Gesundheit fürchtete. Mit fieberhafter zitternder Hand nahm er in eigner Person seinen Mantel ab und rief seinem Kutscher zu: »Nach Hause – schnell nach Hause!« Als der Kutscher die Stimme hörte, die gar nicht klang wie sonst und die sehr oft von Peitschenhieben begleitet war, neigte er vorsichtig den Kopf und ließ seinen Schlitten wie einen Pfeil dahinfliegen. Kurz darauf befand sich der General in seinem Hausflur. Statt sich zu Karoline Bengel zu begeben, zog er sich in sein Zimmer zurück, ohne Mantel, mit bleichem Gesicht, wilden Blicken, und hatte eine so aufgeregte Nacht, daß am folgenden Morgen seine Tochter ausrief: »Aber Papa, bist du denn krank?« Allein er sagte kein Wort, weder von dem, was er gesehen, noch von dem Hause, das er hatte besuchen wollen. Das Ereignis machte einen sehr starken Eindruck auf ihn. Von diesem Tage an richtete er an seine Beamten nicht mehr die heftige Anrede: »Wissen Sie auch, mit wem Sie sprechen? Wissen Sie auch, wer vor Ihnen steht?« Oder wenn es ihm doch einmal begegnete, in gebieterischem Tone mit ihnen zu sprechen, geschah es doch wenigstens erst, nachdem er ihre Bitte ganz angehört hatte. – Und seltsam! Von diesem Tage an ließ sich das Gespenst nicht mehr sehen. Vermutlich war es nur der Mantel des Generals, den es so eifrig gesucht hatte; nun hatte es ihn, und es verlangte weiter nichts. Verschiedene Personen behaupteten jedoch, dieser schreckliche[45] Tote lasse sich auch noch in anderen Stadtvierteln sehen ... Ein Wachtposten hatte mit eigenen Augen das Gespenst aus einem Hause hervortreten sehen. Allein dieser Wachtposten war eine so ängstliche Natur, daß die Leute sich wegen seiner Furcht schon mehr als einmal über ihn lustig gemacht hatten. Da er es nicht wagte, den fliehenden Schatten, den er an sich vorüberhuschen sah, festzuhalten, glitt er selbst in der Dunkelheit hinter ihm her. Plötzlich wandte der Schatten sich um und schrie ihn an: Was willst du? wobei er ihm eine Faust zeigte, wie kein lebender Mensch je eine solche besessen hat. »Ich will nichts!« antwortete der Wachtposten und zog sich schleunigst zurück. Dieser Schatten jedoch war größer als der des Titularrats und trug einen ungeheuren Schnurrbart. Er ging mit großen Schritten auf die Obuchoffsche Brücke zu und verschwand dann in der nächtlichen Dunkelheit.