Der Mantel
Eine Novelle von Nicolaj Gogol
In einer russischen Ministerialabteilung – – – –
Aber es ist wohl besser, ich sage nicht, in welcher Ministerialabteilung es war. Es gibt in Rußland kein empfindlicheres Menschengeschlecht als das der Ministerial-, Regiments- und Kanzleibeamten – kurz alles dessen, was man unter der Bezeichnung »Beamte« zusammenfaßt. Jeder glaubt, wenn er irgendwie gekränkt wird, die ganze Klasse sei in seiner Person beleidigt.
Kürzlich soll ein Isprawnik – ich weiß nicht mehr, in welcher Stadt – einen Bericht verfaßt haben, der den Zweck hatte zu beweisen, daß die Erlasse der Regierung nicht mehr befolgt würden, daß man es sogar wage, den heiligen Titel Isprawnik in verächtlichem Sinne auszusprechen; und zur Begründung seiner Behauptungen legte er seinem Bericht einen ungeheuren Folianten bei, der eine Art Roman enthielt, in dem auf jeder zehnten Seite ein Isprawnik vorkam – stellenweise sogar in vollständig betrunkenem Zustande.
Um daher von vornherein allen etwaigen Reklamationen einen Riegel vorzuschieben, will ich lieber die Ministerialabteilung, die der Schauplatz meiner Geschichte ist, nicht mit unzweifelhafter Deutlichkeit angeben und vorsichtshalber sagen: »In einer gewissen Kanzlei.«
Also in einer gewissen Kanzlei war »ein gewisser[3] Mann« angestellt, ein Beamter, von, ich kann es nicht verhehlen, von ziemlich unscheinbarem Äußeren. Er war von kleiner Statur, sein Gesicht war ein wenig pockennarbig, das Haar ein wenig rot, an der Stirn ziemlich weit zurückgewachsen, beide Schläfen und Wangen waren von Runzeln durchfurcht – von anderen Unvollkommenheiten zu schweigen ... So das äußere Bild unseres Helden, wie es das Petersburger Klima zugerichtet hat.
Was seinen Beamtenrang anging – denn bei uns muß man vor allen Dingen den Beamtenrang angeben – so war er, was man einen ewigen Titularrat zu nennen pflegt, eines jener unglücklichen Wesen, über das, wie männglich bekannt, sich verschiedene Schriftsteller lustig machen, welche die schlechte Gewohnheit haben, Leute anzugreifen, die sich nicht verteidigen können.
Der Name unseres Helden war Baschmatschkin; sein Tauf- und Vatersname Akaki Akakjewitsch.
Vielleicht findet der Leser diese Namen ein wenig seltsam und gesucht, aber er kann versichert sein, daß ich sie durchaus nicht gesucht habe, und daß die Umstände es so gefügt, daß es gar nicht möglich war, ihm andere Namen zu geben.
Das ging folgendermaßen zu:
Akaki Akakjewitsch kam, wenn mein Gedächtnis mich nicht irreführt, in der Nacht auf den dreiundzwanzigsten März zur Welt. Seine selige Mutter, die Frau eines Beamten und zugleich ein sehr gutes Weib, traf, wie sich's gehört, sofort Anstalt, ihr Söhnchen taufen zu lassen. Die Mutter hütete noch das der Tür[4] gegenüber aufgestellte Bett. Zu ihrer Rechten stand der Pate, Iwan Iwanowitsch Jeroschkin, eine sehr bedeutende Persönlichkeit, der beim Senat Registrator war, zu ihrer Linken die Patin, Arina Semenowna Bjellobruschkoff mit Namen, die Frau eines Polizeiinspektors, eine Dame von seltenen Tugenden.
Der Wöchnerin wurden drei Namen zur beliebigen Auswahl für den Täufling vorgeschlagen: Mokius, Kokius und Chosdasatius.
»Nein«, sagte die Wöchnerin, »solche Namen gefallen mir nicht.«
Um ihren Wünschen entgegenzukommen, wurde der Kalender auf einer anderen Seite aufgeschlagen, und zum Vorschein kamen die zwei Namen Trifili und Warachatus.
»Das ist ja wie eine Strafe Gottes«, meinte die Mutter; »was sind das alles für Namen! Niemals in meinem Leben habe ich sie gehört. Wär's noch Waradat oder Waruch; aber Trifili und Warachatus!«
Abermals wurde der Kalender aufgeschlagen – da standen: Pawsikachi und Wachtissi.
»Nun, ich sehe«, sagte die Mutter, »das ist offenbar Schicksal. Wenn's gar nicht anders geht, dann mag er den Namen seines Vaters bekommen. Sein Vater heißt Akaki – mag der Sohn meinetwegen auch Akaki heißen.«
Auf diese Weise kamen die Namen Akaki Akakjewitsch zustande.
Das Kind wurde getauft, wobei es weinte und schrie und allerlei Grimassen machte, als hätte es vorausgefühlt, daß es eines Tages Titularrat werden würde.
Wir haben dies alles so gewissenhaft erzählt, damit[5] der Leser sich selbst überzeugen sollte, daß es gar nicht anders zugehen und der kleine Akaki einen andern Namen gar nicht erhalten konnte.
Zu welcher Zeit Akaki Akakjewitsch in die Kanzlei eintrat, und wer ihm zu seiner Stelle verhalf, dessen vermag sich kein Mensch mehr zu entsinnen. Wie viele Vorgesetzte aller Art sich auch ablösten, alle sahen ihn auf ein und demselben Platze, in derselben Haltung, mit derselben Arbeit beschäftigt, mit demselben Titel, so daß man glauben mußte, er sei ganz so, wie er war, mit den enthaarten Schläfen und seiner Beamtenuniform zur Welt gekommen.
In der Kanzlei, in der er beschäftigt war, wurde ihm keinerlei Rücksicht zuteil. Nicht einmal die Bürodiener standen von ihren Stühlen auf, wenn er eintrat, ja sie sahen ihn nicht einmal an – sie achteten seiner ebensowenig, als wäre eine Fliege durchs Empfangszimmer geflogen. Seine Vorgesetzten behandelten ihn mit kaltem Despotismus. Der Gehilfe des Bürochefs sagte, wenn er ihm einen Berg von Papieren vor die Nase warf, nicht einmal: »Bitte, schreiben Sie das ab«, oder: »Das ist etwas Interessantes – eine recht hübsche Arbeit«, oder sonst ein angenehmes Wort, wie es bei Beamten üblich ist, die eine gute Erziehung genossen haben.
Aber Akaki nahm die Akten; er sah gar nicht darauf, ob man ein Recht hatte, sie ihm zu übergeben oder nicht; er nahm sie und begann sofort mit dem Abschreiben.
Seine jungen Kollegen machten ihn zum Gegenstand ihres Gespötts und ihrer klassischen Witze – soweit man bei Beamten und namentlich bei Kanzleibeamten von Witz überhaupt reden darf. Bald erzählten sie sich in seiner Gegenwart verschiedene erfundene Geschichten über seine Lebensweise und seine Wirtin, eine siebzigjährige Alte; sie behaupteten,[6] sie prügele ihn, und erkundigten sich bei Akaki, wann er mit ihr vor den Traualtar treten würde; bald ließen sie Papierfetzen auf sein Haupt herabregnen und riefen ihm zu, es seien Schneeflocken.
Aber Akaki Akakjewitsch hatte nie ein Wort der Erwiderung auf all diese Attacken; es war, als wäre überhaupt niemand um ihn. Ja selbst auf die Beschaffenheit seiner Arbeit übte das alles keinen Einfluß; trotz all dieser Ablenkungen machte er keinen einzigen Schreibfehler. Nur wenn der Spaß unerträglich wurde, wenn er beim Arm gefaßt und so am Schreiben verhindert wurde, dann sagte er: »Lassen Sie mich doch! Warum wollen Sie mich kränken?«
Und es lag etwas eigentümlich Rührendes in diesen Worten und in der Art, wie er sie aussprach.
Eines Tages begab es sich, daß, als ein erst vor kurzem in der Kanzlei angestellter junger Mensch, von dem Beispiel der andern angestachelt, seinen Witz ebenfalls an ihm üben wollte, dieser plötzlich beim Klang von Akakis Stimme wie angewurzelt dastand und den alten Beamten von diesem Augenblick an mit ganz anderen Augen ansah. Es war ihm, als ob eine übernatürliche Macht ihn von seinen Kollegen, die er hier kennengelernt und die er für wohlerzogene, anständige Leute gehalten, fortziehe und ihm einen Widerwillen gegen sie einflöße. Und noch lange nachher, in glücklichsten Augenblicken, sah er das Bild des armen kleinen Titularrats mit der kahlen Stirn vor sich, und noch immer tönten ihm die Worte im Ohr: »Lassen Sie mich doch! Warum kränken Sie mich?«
Und aus diesen Worten hörte er noch andere heraus – die Worte: »Bin ich nicht euer Bruder?«
Und da verbarg der junge Mann das Gesicht in den Händen, oftmals überkam ihn ein Schauer bei dem Gedanken, wieviel Unbarmherzigkeit im Menschen[7] steckt, wieviel Roheit in der verfeinerten gebildeten Gesellschaft, sogar in solchen Menschen, die in der Welt als edel und ehrenhaft gelten.
Nirgends war ein Beamter zu finden, der so seiner Pflicht lebte wie Akaki Akakjewitsch. Was sage ich – er arbeitete mit Liebe, mit Leidenschaft. Wenn er amtliche Schriftstücke kopierte, so sah er eine schöne bunte Welt vor sich erstehen. Der Genuß, den ihm das Abschreiben gewährte, war auf seinem Gesicht zu lesen. Gewisse Buchstaben malte er mit besonderem Vergnügen; wenn er an die betreffende Stelle kam, so war er ein ganz anderer; er begann zu lächeln, blinzelte mit den Augen, kniff die Lippen zusammen, so daß die Leute, die ihn kannten, auf seinem Gesicht lesen konnten, an welchem Buchstaben er gerade arbeitete.
Wäre er nach seinem Eifer bezahlt worden, so würde er – zu seinem eigenen Erstaunen – vielleicht zum Range eines Staatsrats erhoben worden sein. Allein er durfte, wie seine Kollegen sich ausdrückten, kein Kreuz im Knopfloch tragen und sich durch seinen Diensteifer nur Hämorrhoiden zuziehen.
Übrigens muß ich erwähnen, daß er einmal eine gewisse Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Ein Direktor, der ein braver Mensch war und ihn für seine langen Dienste belohnen wollte, befahl, ihm eine Arbeit anzuvertrauen, die wichtiger war als die Aktenstücke, die er gewöhnlich zu kopieren hatte. Diese neue Arbeit bestand darin, irgendeinen Bericht an eine Gerichtsbehörde vorzubereiten, die Titel verschiedener Akten abzuändern und hin und wieder das Fürwort der ersten Person durch das der dritten zu ersetzen.
Akaki unterzog sich seiner Aufgabe. Aber sie verwirrte und ermüdete ihn derart, daß ihm der Schweiß von der Stirn floß und er endlich ausrief: »Nein, gebt mir lieber wieder etwas abzuschreiben.«[8]
Und von diesem Augenblick an ließ man ihn bis an sein Lebensende abschreiben.
Außer seinen Kopien schien es für ihn nichts auf der Welt zu geben. Er dachte nicht einmal an seine Kleidung. Seine Uniform, die ursprünglich grün war, hatte eine rötliche Farbe angenommen. Seine Halsbinde war so eng und so zusammengeschrumpft, daß sein Hals, obgleich er durchaus nicht lang war, weit aus dem Kragen herausragte und ungewöhnlich lang erschien – just wie bei den Gipskatzen mit beweglichen Köpfen, die Händler in den russischen Dörfern umhertragen, um sie an die Bauern abzusetzen.
Und immer heftete sich irgendein Gegenstand an seine Kleidung; bald ein Stückchen Faden, bald das herumflatternde Fragment eines Strohhalms. Zudem hatte er eine eigentümliche Vorliebe dafür, just in dem Augenblick, da irgendein nicht ganz sauberer Gegenstand auf die Straße geworfen wurde, unter den betreffenden Fenstern vorüberzugehen, und darum trug er stets auf seinem Haupte Melonenschalen und ähnliche Abfälle. Niemals in seinem Leben hatte er dem Beachtung geschenkt, was sich täglich auf den Straßen regt und bewegt, und auf das, wie bekannt, seine Kollegen mit so scharfen Blicken achten, daß sie es sofort bemerken, wenn auf dem andern Bürgersteig ein Sterblicher mit zerrissenen Beinkleidern vorüberwandert – ein Schauspiel, das ihnen stets ein besonderes Vergnügen bereitet.
Akaki Akakjewitsch sah immer nur die sauberen, gleichmäßigen Linien seiner Kopien vor sich, und nur wenn er plötzlich an die Schnauze eines Pferdes stieß, das ihm durch die Nüstern seinen geräuschvollen Atem ins Gesicht blies, bemerkte der Wackere erst, daß er sich nicht an seinem Schreibtisch inmitten seiner schönen Abschriften befand, sondern mitten auf der Straße.[9]
Zu Hause angelangt, setzte er sich sofort zu Tisch, verzehrte in aller Eile seine Kohlsuppe und aß dann, ohne irgendwie auf den Geschmack zu achten, ein Stück Rindfleisch mit Knoblauch; er verzehrte es nebst den Fliegen und all den Dingen, womit Gott und der Zufall es bestreut hatten. War sein Hunger gestillt, dann setzte er sich sofort an den Tisch und begann die Akten abzuschreiben, die er mit nach Hause genommen hatte. Waren zufällig keine amtlichen Schriftstücke zu kopieren, so schrieb er zu seinem eigenen Vergnügen die Akten ab, denen er eine besondere Wichtigkeit beilegte – nicht wegen ihrer mehr oder minder schönen Fassung, sondern weil sie an irgendeine hohe Persönlichkeit gerichtet waren.
Wenn der graue Petersburger Himmel in den Schleier der Nacht gehüllt ist und das ganze Beamtenvolk sein Mittagsmahl je nach den gastronomischen Neigungen oder nach der Schwere der Börse beendet hat – wenn alles sich erholt von dem Gekritzel der bürokratischen Federn, von all den Sorgen und Geschäften, die der Mensch sich oft unnützerweise auferlegt, so will ein jeder den Rest des Tages seinem persönlichen Vergnügen widmen. Dieser geht ins Theater, jener wandert auf den Straßen umher und macht sich ein Vergnügen daraus, die Toiletten zu betrachten; wieder ein anderer girrt einem jungen Mädchen, das wie ein Stern in seinem bescheidenen Beamtenkreise auftaucht, ein paar schmeichelhafte gefühlvolle Worte zu. Da und dort macht auch einer einem Kollegen einen Besuch, im dritten oder vierten Stock, in dessen einfacher, aus zwei Stuben nebst Vorraum und Küche bestehenden Wohnung, die mit einer anspruchsvollen Ausstattung geschmückt ist, zum Beispiel einer Lampe und irgendeinem anderen, nach langen Entbehrungen gekauften Gegenstande.
Kurz, um diese Zeit widmet sich jeder Beamte auf[10] diese oder jene Weise dem Vergnügen; hier wird Whist gespielt, dort Tee mit billigem Backwerk genossen oder Tabak aus langen Pfeifen geraucht. Die einen erzählen sich Skandalgeschichten aus den vornehmen Kreisen, denn in welchen Lebenslagen der Russe sich auch befinden mag, von der vornehmen Welt vermag er seine Gedanken nie abzulenken; andere geben uralte, aber immer noch beliebte Anekdoten zum besten, wie zum Beispiel die von dem Kommandanten, dem gemeldet wird, ein Übeltäter habe dem Pferde auf dem Denkmale Peters des Großen den Schwanz abgeschnitten.
Also auch in diesen Stunden der Erholung und der Vergnügungen blieb Akaki Akakjewitsch seinen Gewohnheiten treu. Niemand vermochte zu sagen, daß er ihn irgendeinmal in einer Abendgesellschaft gesehen habe. Wenn er sich satt geschrieben, legte er sich zu Bett und dachte an die Freuden des folgenden Tages, an die schönen Kopien, die der liebe Gott ihm morgen anvertrauen würde.
So floß das friedliche Dasein eines Menschen dahin, der bei seinen vierhundert Rubeln Gehalt mit seinem Geschick vollkommen zufrieden war; und er hätte vielleicht ein hohes Alter erreichen können, wenn ihn nicht einer jener unglücklichen Zwischenfälle betroffen hätte, die nicht bloß die Titular-, sondern auch die Geheimen, Wirklichen, Hof- und andern Räte bedrohen, selbst diejenigen nicht ausgeschlossen, die niemals einen Rat erteilen oder empfangen.
In Petersburg haben alle, die nur ein Jahresgehalt von vierhundert Rubeln oder da herum beziehen, einen furchtbaren Feind; und dieser furchtbare Feind ist unsere nordische Kälte, wenn auch behauptet wird, sie sei der Gesundheit sehr zuträglich.
Gegen neun Uhr morgens, wenn die Beamten der verschiedenen Abteilungen sich in ihre Büros begeben, zwickt ihnen die Kälte so lebhaft die Nase, daß die[11] meisten von ihnen sich nicht zu helfen wissen. Wenn in diesem Augenblick die hohen Würdenträger in eigner Person derart unter der Strenge der Kälte leiden, daß ihnen die Tränen in die Augen treten – wie müssen erst die Titularräte leiden, denen es ihre Mittel nicht erlauben, sich gegen den strengen Winter zu schützen. Haben sie sich in ihre leichten Mäntel gehüllt, so gilt es, in aller Hast fünf, sechs Straßen zu durcheilen, dann bei dem Portier haltzumachen, um sich zu erwärmen und zu warten, bis ihre bürokratischen Fähigkeiten wieder auftauen.
Seit einiger Zeit empfand Akaki im Rücken und an den Schultern sehr scharfe Stiche, obgleich er den Weg von seiner Wohnung bis zu seinem Büro mit aller Macht laufend zurücklegte. Nachdem er die Sache wohl überlegt, gelangte er endlich zu dem Resultat, daß sein Mantel an einer gewissen Unvollkommenheit leiden müsse. Wieder in seinem Zimmer angekommen, untersuchte er ihn sorgfältig und bemerkte, daß der geliebte Stoff an zwei drei Stellen sich so sehr verdünnt hatte, daß er geradezu durchsichtig geworden und daß das Futter zerrissen war.
Dieser Mantel war seit langer Zeit der beständige Gegenstand von Stichelreden für die unerbittlichen Kollegen Akakis. Sie hatten ihm sogar den edlen Namen Mantel geraubt und ihn Kapuze getauft. Allerdings sah dies Kleidungsstück seltsam genug aus. Jahr für Jahr war der Kragen verkleinert worden, denn Jahr für Jahr hatte der arme Titularrat ein Stück davon abgenommen, um den Mantel an einer andern Stelle damit auszubessern; und diese Ausbesserungen verrieten nicht die geübte Hand eines Schneiders; sie waren in sehr plumper Weise gemacht und nahmen sich überaus häßlich aus.
Nachdem Akaki Akakjewitsch seine betrübende Untersuchung beendet, sagte er sich, daß er seinen[12] Mantel unbedingt zu Petrowitsch, dem Schneider, bringen müßte, der hoch oben im vierten Stock, in einer finstern Klause wohnte.
Mit seinem schielenden Blick und dem pockennarbigen Gesicht sah Petrowitsch durchaus nicht danach aus, als hätte er die Ehre, Fracks und Beinkleider für hohe Beamte zu machen, wenn er sich in nüchternem Zustande befand und sich nicht süßeren Beschäftigungen hingab.
Ich könnte es mir versagen, hier von diesem Schneider zu reden. Allein, da es einmal so Brauch ist, daß jede in einer Erzählung vorkommende Persönlichkeit mit der ihr eigenen Physiognomie vorgestellt wird, so muß ich wohl oder übel Petrowitsch schildern. Ehedem, als er noch in dem Hause seines Herrn als Leibeigener fungierte, hieß er einfach Gregor. Als er frei wurde, glaubte er sich mit einem neuen Namen schmücken zu müssen; zugleich begann er tapfer zu trinken, anfangs nur an den hohen Festtagen, dann allmählich an allen Festtagen, die im Kalender durch ein Kreuz bezeichnet sind. Durch diese feierliche Begehung der von der Kirche geweihten Tage glaubte er den Sitten seiner Kindheit treu zu bleiben; und wenn er seine Frau auszankte, so schrie er, sie sei ein weltliches Geschöpf und eine Deutsche. Von dieser Frau haben wir weiter nichts zu berichten, als daß sie des Petrowitsch Frau war, und daß sie kein Tuch, sondern eine Haube auf dem Kopfe trug. Im übrigen war sie nicht hübsch, nur die Soldaten sahen sie im Vorübergehen an, und dann drehten sie sich den Schnurrbart und gingen lachend weiter.
Akaki Akakjewitsch wandte sich also der Dachstube des Schneiders zu. Er erreichte sie über eine schwarze, schmutzige, feuchte Treppe, die wie alle von dem gewöhnlichen Volk in Petersburg bewohnten Häuser jene Spiritusdünste ausströmte, die zugleich die Nase und die Augen verletzen.[13]
Während der Titularrat die glitschigen Stufen hinaufkletterte, berechnete er sich, was Petrowitsch für die Reparatur seines Mantels verlangen könnte, und nahm sich vor, ihm nur einen Rubel zu geben.
Die Wohnungstür des Handwerkers stand offen, um den Rauchwirbeln einen Ausgang zu verschaffen, die aus der Küche drangen, wo des Petrowitsch Frau Fische briet. Akaki schritt, die Blicke von dem Rauch getrübt, durch die Küche, ohne daß die Frau ihn sah, und trat in das Zimmer, in dem der Schneider auf einem großen hölzernen, roh zugehauenen Tische saß, die Beine wie ein türkischer Pascha gekreuzt und, wie das bei den meisten Schneidern üblich, mit nackten Füßen.
Was zunächst die Aufmerksamkeit erregte, wenn man sich ihm näherte, war der Nagel des Daumens, der ein wenig verstümmelt, aber hart und starr wie eine Schildkrötenschale war. Um den Hals trug er mehrere Fitzen Seide und Zwirn, und auf den Knien hatte er einen zerlumpten Rock. Seit einigen Minuten mühte er sich ab, eine Nadel einzufädeln, was ihm jedoch nicht glücken wollte. Erst war er auf die Dunkelheit wütend geworden, dann auf den Faden.
»Willst du denn gar nicht hinein, du langweilst mich!« rief er.
Akaki bemerkte sofort, daß er zu ungelegener Zeit gekommen. Gern hätte er sich Petrowitsch in einem günstigen Augenblick vorgestellt, wenn er sich eine neue Erfrischung gönnte – wenn er, wie seine Frau es nannte, sich eine solide Ration Branntwein nahm. Dann ging der Schneider mit außerordentlicher Herablassung auf die Vorschläge seines Kunden ein, verbeugte sich vor ihm und dankte ihm noch. Manchmal allerdings mischte sich die Frau in die Verhandlung und schrie, er sei betrunken und verspreche, die Arbeit zu einem viel zu niedrigen Preise zu machen.[14] Aber wurde dann eine Kleinigkeit zugelegt, so war die Sache erledigt.
Zu des Titularrats Unglück hatte Petrowitsch in diesem Augenblick die Flasche noch nicht angerührt, und in solchen Momenten war er hart, querköpfig und fähig, einen erschreckenden Preis zu verlangen.
Akaki sah diese Gefahr voraus und wäre gerne wieder umgekehrt; allein es war bereits zu spät, das Auge des Schneiders – sein einziges Auge, denn er war einäugig – hatte ihn schon bemerkt, und Akaki Akakjewitsch murmelte unwillkürlich:
»Guten Tag, Petrowitsch.«
»Willkommen, Herr«, antwortete der Schneider und richtete den Blick auf des Titularrats Hand, um zu sehen, was er darin hätte.
»Ich komme eben ... bloß ... um ... ich möchte –«
Wir müssen hier bemerken, daß der schüchterne Titularrat in der Regel, um seine Gedanken auszudrücken, nur Präpositionen, Adverbien oder Partikeln gebrauchte, die niemals einen bestimmten Sinn ergaben.
War die Angelegenheit, um die es sich handelte, schwieriger Natur, dann konnte er den begonnenen Satz niemals beenden. So begegnete es ihm, daß er sich bei seinen Verhandlungen in die Formeln verstrickte: ja – es ist zwar wahr, daß –
Dabei blieb er stecken und vergaß, was er sagen wollte, oder glaubte, es gesagt zu haben.
»Was wünschen Sie, Herr?« fragte Petrowitsch, ihn mit einem forschenden Blick von oben bis unten messend, und Kragen, Ärmel, Taille, Knöpfe, kurz Akakis ganze Uniform betrachtend, obgleich er sie sehr wohl kannte, da er sie selbst gemacht hatte. Die Schneider haben nun einmal die Gewohnheit, fremde Kleidungsstücke in dieser Weise zu betrachten. Das ist ihr erster Gedanke, wenn sie einem Bekannten begegnen.
Da antwortete Akaki, wie gewöhnlich stotternd:[15]
»Ich möchte ... Petrowitsch ... dieser Mantel ... sehen Sie ... aber übrigens ist er noch ganz gut, nur daß er ein wenig staubig ... und darum sieht er ein wenig alt aus. Er ist jedoch noch ganz neu ... nur da so ein wenig abgeschlissen ... da im Rücken und dann hier an der Schulter ... zwei, drei ganz kleine Risse. Du siehst, gar nicht der Rede wert, in ein paar Minuten hast du das vollständig wieder ausgebessert.«
Petrowitsch nahm den unglücklichen Mantel, breitete ihn über den Tisch, betrachtete ihn schweigend und schüttelte das Haupt. Dann streckte er die Hand zum Fenster aus nach seiner Tabaksdose, einer runden, mit dem Bildnis eines Generals geschmückten Tabaksdose – ich weiß übrigens nicht, welches Generals, denn die Stelle, wo das Gesicht gewesen, war mit dem Finger durchbohrt und danach mit einem viereckigen Stückchen Papier verklebt worden.
Nachdem Petrowitsch eine Prise genommen, betrachtete er die Kapuze von neuem, hielt sie ans Licht und schüttelte abermals den Kopf. Dann untersuchte er das Futter, hob zum zweitenmal den Deckel seiner ehedem mit dem Antlitz des Generals geschmückten Tabaksdose auf, nahm eine zweite Prise und rief endlich aus: »Nein, daran ist gar nichts mehr auszubessern. Ein ganz miserabler Lappen!«
Bei diesen Worten sank Akaki der Mut.
»Wieso denn?« fragte er in dem klagenden Ton eines Kindes, »ist denn dieses Loch gar nicht mehr auszubessern? Schau doch nur, Petrowitsch; du siehst ja, nur ein paar Risse, und du hast doch Lappen genug, um das wieder zuzunähen.«
»Ja, Lappen genug habe ich schon, aber wie soll ich sie draufnähen? Das Tuch ist abgetragen, es hält keinen Stich mehr.«
»Na, wo der Stich nicht hält, da setzest du einen neuen Lappen auf.«[16]
»Da hilft gar kein Lappen mehr; Tuch ist doch schließlich Tuch, und in diesem Zustande vermag schon ein Windstoß diesen jämmerlichen Mantel in Fetzen zu reißen.«
»Aber wenn du ihn etwas dauerhafter machtest, siehst du – – wirklich – –«
»Nein«, antwortete Petrowitsch in bestimmtem Ton, »da ist nichts mehr zu machen, der Stoff ist vollständig abgenutzt. Da wär's schon besser, Sie machten sich im Winter Fußlappen daraus; die halten wärmer als Strümpfe. Die Deutschen haben die Strümpfe nur erfunden, um viel Geld zu verdienen.«
Petrowitsch ließ nie eine Gelegenheit vorübergehen, ohne den Deutschen einen Hieb zu versetzen.
»Sie müssen sich unbedingt einen neuen Mantel anschaffen«, fügte er hinzu.
»Einen neuen Mantel?«
Akaki Akakjewitsch wurde es schwarz vor den Augen. Es war ihm, als ob sich die Schneiderwerkstatt um ihn herum drehe, und der einzige Gegenstand, den er klar unterscheiden konnte, war das mit Papier beklebte Porträt des Generals auf der Tabaksdose des Schneiders.
»Einen neuen Mantel«, murmelte er wie halb bewußtlos. »Aber ich habe ja kein Geld.«
»Jawohl, einen neuen Mantel«, wiederholte Petrowitsch mit grausamer Gelassenheit.
»Ja, selbst wenn ich einen solchen Entschluß faßte – wieviel –«
»Sie meinen, wieviel er kostet?«
»Ja.«
»Etwa hundertfünfzig Papierrubel«, antwortete der Schneider und kniff die Lippen zusammen.[17]
Diesem verwünschten Schneider machte es ein besonderes Vergnügen, seine Kunden in Verlegenheit zu setzen und den Ausdruck ihrer Gesichter mit seinem schielenden einzigen Auge zu beobachten.
»Hundertfünfzig Rubel für einen Mantel?« wiederholte Akaki Akakjewitsch in einem Tone, der wie ein Aufschrei klang – vermutlich der erste Schrei, den er seit seiner Geburt ausgestoßen, denn er sprach sonst immer nur in ganz schüchternem Tone.
»Ja«, versetzte Petrowitsch, »und dann der Marderkragen und seidenes Futter für die Kapuze – das macht zusammen zweihundert Rubel.«
»Petrowitsch, ich beschwöre dich«, sagte Akaki Akakjewitsch mit flehender Stimme, da er die Worte des Schneiders nicht mehr hörte noch hören wollte, »versuche, mir diesen Mantel auszubessern, damit er noch eine Zeitlang vorhält.«
»Nein, das wäre ganz verlorne Arbeit und unnütze Verschwendung.«
Nach dieser Antwort ging Akaki ganz vernichtet wieder fort, während Petrowitsch mit zusammengebissenen Lippen, müßig und sehr zufrieden, daß er sich so fest gezeigt und die Schneiderwissenschaft so tapfer verteidigt hatte, auf dem Tische zurückblieb.