Fünfunddreißigstes Kapitel
Um dieselbe Stunde, wo sich die fünf Herren von der Barbyschen Hochzeitstafel entfernt hatten, waren auch Baron Berchtesgaden und Hofprediger Frommel aufgebrochen, so daß sich, außer dem Brautvater, nur noch der alte Stechlin im Hochzeitshause befand. Dieser hatte sich – Melusine war vom Bahnhofe noch nicht wieder da – vom Eßsaal her zunächst in das verwaiste Damenzimmer und von diesem aus auf die Loggia zurückgezogen, um da die Lichter im Strom sich spiegeln zu sehn und einen Zug frische Luft zu tun. An dieser Stelle fand ihn denn auch schließlich der alte Graf und sagte, nachdem er seinem Staunen über den gesundheitlich etwas gewagten Aufenthalt Ausdruck gegeben hatte: »Nun aber, mein lieber Stechlin, wollen wir endlich einen kleinen Schwatz haben und uns näher miteinander bekannt machen. Ihr Zug geht erst zehn ein halb; wir haben also noch beinah anderthalb Stunden.«
Und dabei nahm er Dubslavs Arm, um ihn in sein Wohnzimmer, das bis dahin als Estaminet gedient hatte, hinüberzuführen.
»Erlauben Sie mir,« fuhr er hier fort, »daß ich zunächst mein halb eingewickeltes und halb eingeschientes Elefantenbein auf einen Stuhl strecke; es hat mich all die Zeit über ganz gehörig gezwickt, und namentlich das Stehen vor dem Altar ist mir blutsauer geworden. Bitte, rücken Sie heran. Es ging während unsers kleinen Diners alles so rasch, und ich wette, Sie sind bei dem Kaffee ganz erheblich zu kurz gekommen. Der Moment, wo das Bier herumgereicht wird, ist in den Augen des modernen Menschen immer das wichtigste; da wird dann der Kaffeezeit manches abgeknapst.«
Und dabei drückte er auf den Knopf der Klingel.
»Jeserich, noch eine Tasse für Herrn von Stechlin und natürlich einen Kognak oder Curaçao oder lieber die ganze ›Benediktinerabtei‹, – Witz von Cujacius, für den Sie mich also nicht verantwortlich machen dürfen … Leider werde ich Ihnen bei diesem ›zweiten Kaffee‹ nicht Gesellschaft leisten können; ich habe mich schon bei Tische mit einer lügnerisch und bloß anstandshalber in einen Champagnerkübel gestellten Apollinarisflasche begnügen müssen. Aber was hilft es, man will doch nicht auffallen mit all seinen Gebresten.«
Dubslav war der Aufforderung des alten Grafen nachgekommen und saß, eine Lampe mit grünem Schirm zwischen sich und ihm, seinem Wirte gerade gegenüber. Jeserich kam mit der Tablette.
»Den Kognak,« fuhr der alte Barby fort, »kann ich Ihnen empfehlen; noch Beziehungen aus Zeiten her, wo man mit einem Franzosen ungeniert sprechen und nach einer guten Firma fragen konnte. Waren Sie siebzig noch mit dabei?«
»Ja, so halb. Eigentlich auch das kaum. Aus meinem Regiment war ich lange heraus. Nur als Johanniter.«
»Ganz wie ich selber.«
»Eine wundervolle Zeit, dieser Winter siebzig,« fuhr Dubslav fort, »auch rein persönlich angesehn. Ich hatte damals das, was mir zeitlebens, wenn auch nicht absolut, so doch mehr als wünschenswert gefehlt hatte: Fühlung mit der großen Welt. Es heißt immer, der Adel gehöre auf seine Scholle, und je mehr er mit der verwachse, desto besser sei es. Das ist auch richtig. Aber etwas ganz Richtiges gibt es nicht. Und so muß ich denn sagen, es war doch was Erquickliches, den alten Wilhelm so jeden Tag vor Augen zu haben. Hab ihn freilich immer nur flüchtig gesehn, aber auch das war schon eine Herzensfreude. Sie nennen ihn jetzt den ›Großen‹ und stellen ihn neben Fridericus Rex. Nun, so einer war er sicherlich nicht, an den reicht er nicht ran. Aber als Mensch war er ihm über, und das gibt, mein ich, in gewissem Sinne den Ausschlag, wenn auch zur ›Größe‹ noch was anders gehört. Ja, der alte Fritz! Man kann ihn nicht hoch genug stellen; nur in einem Punkte find ich trotzdem, daß wir eine falsche Position ihm gegenüber einnehmen, gerade wir vom Adel. Er war nicht so sehr für uns, wie wir immer glauben oder wenigstens nach außen hin versichern. Er war für sich und für das Land oder, wie er zu sagen liebte, ›für den Staat‹. Aber daß wir als Stand und Kaste so recht was von ihm gehabt hätten, das ist eine Einbildung.«
»Überrascht mich, aus Ihrem Munde zu hören.«
»Ist aber doch wohl richtig. Wie lag es denn eigentlich? Wir hatten die Ehre, für König und Vaterland hungern und dursten und sterben zu dürfen, sind aber nie gefragt worden, ob uns das auch passe. Nur dann und wann erfuhren wir, daß wir ›Edelleute‹ seien und als solche mehr ›Ehre‹ hätten. Aber damit war es auch getan. In seiner innersten Seele rief er uns eigentlich genau dasselbe zu wie den Grenadieren bei Torgau. Wir waren Rohmaterial und wurden von ihm mit meist sehr kritischem Auge betrachtet. Alles in allem, lieber Graf, find ich unser Jahr dreizehn eigentlich um ein Erhebliches größer, weil alles, was geschah, weniger den Befehlscharakter trug und mehr Freiheit und Selbstentschließung hatte. Ich bin nicht für die patentierte Freiheit der Parteiliberalen, aber ich bin doch für ein bestimmtes Maß von Freiheit überhaupt. Und wenn mich nicht alles täuscht, so wird auch in unsern Reihen allmählich der Glaube lebendig, daß wir uns dabei – besonders auch rein praktisch-egoistisch – am besten stehn.«
Der alte Barby freute sich sichtlich dieser Worte. Dubslav aber fuhr fort: »Übrigens, das muß ich sagen dürfen, lieber Graf, Sie wohnen hier brillant an Ihrem Kronprinzenufer; ein entzückender Blick, und Fremde würden vielleicht kaum glauben, daß an unsrer alten Spree so was Hübsches zu finden sei. Die Niederlassungs- und speziell die Wohnungsfrage spielt doch, wo sich's um Glück und Behagen handelt, immer stark mit, und gerade Sie, der Sie so lange draußen waren, werden, ehe Sie hier dies Visavis von unsrer Jungfernheide wählten, nicht ohne Bedenken gewesen sein. In bezug auf die Landschaft gewiß und in bezug auf die Menschen vielleicht.«
»Sagen wir, auch da gewiß. Ich hatte wirklich solche Bedenken. Aber sie sind niedergekämpft. Vieles gefiel mir durchaus nicht, als ich, nach langen, langen Jahren, aus der Fremde wieder nach hier zurückkam, und vieles gefällt mir auch noch nicht. Überall ein zu langsames Tempo. Wir haben in jedem Sinne zuviel Sand um uns und in uns, und wo viel Sand ist, da will nichts recht vorwärts, immer bloß hü und hott. Aber dieser Sandboden ist doch auch wieder tragfähig, nicht glänzend, aber sicher. Er muß nur, und vor allem der moralische, die richtige Witterung haben, also zu rechter Zeit Regen und Sonnenschein. Und ich glaube, Kaiser Friedrich hätt ihm diese Witterung gebracht.«
»Ich glaub es nicht,« sagte Dubslav.
»Meinen Sie, daß es ihm schließlich doch nicht ein rechter Ernst mit der Sache war?«
»O nein, nein. Es war ihm Ernst, ganz und gar. Aber es würd ihm zu schwer gemacht worden sein. Rund heraus, er wäre gescheitert.«
»Woran?«
»An seinen Freunden vielleicht, an seinen Feinden gewiß. Und das waren die Junker. Es heißt immer, das Junkertum sei keine Macht mehr, die Junker fräßen den Hohenzollern aus der Hand und die Dynastie züchte sie bloß, um sie für alle Fälle parat zu haben. Und das ist eine Zeitlang vielleicht auch richtig gewesen. Aber heut ist es nicht mehr richtig, es ist heute grundfalsch. Das Junkertum (trotzdem es vorgibt, seine Strohdächer zu flicken, und sie gelegentlich vielleicht auch wirklich flickt), dies Junkertum – und ich bin inmitten aller Loyalität und Devotion doch stolz, dies sagen zu können – hat in dem Kampf dieser Jahre kolossal an Macht gewonnen, mehr als irgendeine andre Partei, die Sozialdemokratie kaum ausgeschlossen, und mitunter ist mir's, als stiegen die seligen Quitzows wieder aus dem Grabe herauf. Und wenn das geschieht, wenn unsre Leute sich auf das besinnen, worauf sie sich seit über vierhundert Jahren nicht mehr besonnen haben, so können wir was erleben. Es heißt immer: ›unmöglich.‹ Ah bah, was ist unmöglich? Nichts ist unmöglich. Wer hätte vor dem 18. März den 18. März für möglich gehalten, für möglich in diesem echten und rechten Philisternest Berlin! Es kommt eben alles mal an die Reihe; das darf nicht vergessen werden. Und die Armee! Nun ja. Wer wird etwas gegen die Armee sagen? Aber jeder glückliche General ist immer eine Gefahr! Und unter Umständen auch noch andre. Sehen Sie sich den alten Sachsenwalder an, unsren Zivil-Wallenstein. Aus dem hätte schließlich doch Gott weiß was werden können.«
»Und Sie glauben,« warf der Graf hier ein, »an dieser scharfen Quitzow-Ecke wäre Kaiser Friedrich gescheitert?«
»Ich glaub es.«
»Hm, es läßt sich hören. Und wenn so, so wär es schließlich ein Glück, daß es nach den neunundneunzig Tagen anders kam und wir nicht vor diese Frage gestellt wurden.«
»Ich habe mit meinem Woldemar, der einen stark liberalen Zug hat (ich kann es nicht loben und mag's nicht tadeln) oft über diese Sache gesprochen. Er war natürlich für Neuzeit, also für Experimente … Nun hat er inzwischen das bessere Teil erwählt, und während wir hier sprechen, ist er schon über Trebbin hinaus. Sonderbar, ich bin nicht allzuviel gereist, aber immer, wenn ich an diesem märkischen Neste vorbeikam, hatt ich das Gefühl: ›jetzt wird es besser, jetzt bist du frei.‹ Ich kann sagen, ich liebe die ganze Sandbüchse da herum, schon bloß aus diesem Grunde.«
Der alte Graf lachte behaglich. »Und Trebbin wird sich von dieser Ihrer Schwärmerei nichts träumen lassen. Übrigens haben Sie recht. Jeder lebt zu Hause mehr oder weniger wie in einem Gefängnis und will weg. Und doch bin ich eigentlich gegen das Reisen überhaupt und speziell gegen die Hochzeitsreiserei. Wenn ich so Personen in ein Coupé nach Italien einsteigen sehe, kommt mir immer ein Dankgefühl, dieses ›höchste Glück auf Erden‹ nicht mehr mitmachen zu müssen. Es ist doch eigentlich eine Qual, und die Welt wird auch wieder davon zurückkommen; über kurz oder lang wird man nur noch reisen, wie man in den Krieg zieht oder in einen Luftballon steigt, bloß von Berufs wegen. Aber nicht um des Vergnügens willen. Und wozu denn auch? Es hat keinen rechten Zweck mehr. In alten Zeiten ging der Prophet zum Berge, jetzt vollzieht sich das Wunder und der Berg kommt zu uns. Das Beste vom Parthenon sieht man in London und das Beste von Pergamum in Berlin, und wäre man nicht so nachsichtig mit den lieben, nie zahlenden Griechen verfahren, so könnte man sich (am Kupfergraben) im Laufe des Vormittags in Mykenä und nachmittags in Olympia ergehn.«
»Ganz Ihrer Meinung, teuerster Graf. Aber doch zugleich auch ein wenig betrübt, Sie so dezidiert gegen alle Reiserei zu finden. Ich stand nämlich auf dem Punkte, Sie nach Stechlin hin einzuladen, in meine alte Kate, die meine guten Globsower unentwegt ein ›Schloß‹ nennen.«
»Ja, lieber Stechlin, Ihre ›Kate‹, das ist was andres. Und um Ihnen ganz die Wahrheit zu sagen, wenn Sie mich nicht eingeladen hätten (eigentlich ist es ja noch nicht geschehn, aber ich greife bereits vor), so hätt ich mich bei Ihnen angemeldet. Das war schon lange mein Plan.«
In diesem Augenblicke ging draußen die Klingel. Es war Melusine.
»Bringe den Vätern, respektive Schwiegervätern allerschönste Grüße. Die Kinder sind jetzt mutmaßlich schon über Wittenberg, die große Luther- beziehungsweise Apfelkuchenstation, hinaus, und in weniger als zwei Stunden fahren sie in den Dresdener Bahnhof ein. O diese Glücklichen! Und dabei verwett ich mich, Armgard hat bereits Sehnsucht nach Berlin zurück. Vielleicht sogar nach mir.«
»Kein Zweifel,« sagte Dubslav. Die Gräfin selbst aber fuhr fort: »Ehe man nämlich ganz Abschied von dem alten Leben nimmt, sehnt man sich noch einmal gründlich danach zurück. Freilich, Schwester Armgard wird weniger davon empfinden als andere. Sie hat eben den liebenswürdigsten und besten Mann, und ich könnt ihn ihr beinah beneiden, trotzdem ich noch im Abschiedsmoment einen wahren Schreck kriegte, als ich ihn sagen hörte, daß er morgen vormittag mit ihr vor die Sixtinische Madonna treten wolle. Worte, bei denen er noch dazu wie verklärt aussah. Und das find ich einfach unerhört. Warum, werden Sie mich vielleicht fragen. Nun denn, weil es erstens eine Beleidigung ist, sich auf eine Madonna so extrem zu freuen, wenn man eine Braut oder gar eine junge Frau zur Seite hat, und zweitens, weil dieser geplante Galeriebesuch einen Mangel an Disposition und Ökonomie bedeutet, der mich für Woldemars ganze Zukunft besorgt machen kann. Diese Zukunft liegt doch am Ende nach der agrarischen Seite hin, und richtige ›Dispositionen‹ bedeuten in der Landwirtschaft so gut wie alles.«
Der alte Graf wollte widersprechen, aber Melusine ließ es nicht dazu kommen und fuhr ihrerseits fort: »Jedenfalls – das ist nicht wegzudisputieren – fährt unser Woldemar jetzt in das Land der Madonnen hinein und will da mutmaßlich mit leidlich frischen Kräften antreten; wenn er sich aber schon in Deutschland etappenweise vertut, so wird er, wenn er in Rom ist, wohl sein Programm ändern und im Café Cavour eine Berliner Zeitung lesen müssen, statt nebenan im Palazzo Borghese Kunst zu schwelgen. Ich sage mit Vorbedacht: eine Berliner Zeitung, denn wir werden jetzt Weltstadt und wachsen mit unserer Presse schon über Charlottenburg hinaus … Übrigens läßt, wie das junge Paar, so auch die Baronin bestens grüßen. Eine reizende Frau, Herr von Stechlin, die grad Ihnen ganz besonders gefallen würde. Glaubt eigentlich gar nichts und geriert sich dabei streng katholisch. Das klingt widersinnig und ist doch richtig und reizend zugleich. All die Süddeutschen sind überhaupt viel netter als wir, und die nettesten, weil die natürlichsten, sind die Bayern.«
Sonnenuntergang
Sechsunddreißigstes Kapitel
Der alte Dubslav, als er bald nach elf auf seinem Granseer Bahnhof eintraf, fand da Martin und seinen Schlitten bereits vor. Engelke hatte zum Glück für warme Sachen gesorgt, denn es war inzwischen recht kalt geworden. Im ersten Augenblicke tat dem Alten, in dessen Coupé die herkömmliche Stickluft gebrütet hatte, der draußen wehende Ostwind überaus wohl; sehr bald aber stellte sich ein Frösteln ein. Schon tags zuvor, bei Beginn seiner Reise, war ihm nicht so recht zumute gewesen, Kopfweh, Druck auf die Schläfe; jetzt war derselbe Zustand wieder da. Trotzdem nahm er's leicht damit und sah in das Sterngeflimmer über ihm. Die wie Riesenbesen aufragenden Pappeln warfen dunkle, groteske Schatten über den Weg, während er die nach links und rechts hin liegenden toten Schneefelder mit den wechselnden Bildern alles dessen, was ihm der zurückliegende Tag gebracht harte, belebte. Da sah er wieder die mit rotem Teppich belegte Hotel-Marmortreppe mit dem Oberkellner in Gesandtschaftsattachéhaltung, und im nächsten Augenblicke den Garnisonkirchenküster, den er anfänglich für einen zur Feier eingeladenen Konsistorialrat gehalten hatte. Daneben aber stand die blasse, schöne Braut und die reizende, bieg- und schmiegsame Melusine. »Ja, der alte Barby, wenn er auf die sieht, der hat's gut, der kann es aushalten. Immer einen guten und klugen Menschen um sich haben, immer was hören und sehen, was einen anlacht und erquickt, das ist was. Aber ich! Ich für meinen Teil, gleichviel ob mit oder ohne Schuld, ich war immer nur auf ein Pflichtteil gesetzt, – als Kind, weil ich faul war, und als Leutnant, weil ich nicht recht was hatte. Dann kam ein Lichtblick. Aber gleich danach starb sie, die mir Stab und Stütze hätte sein können, und durch all die dreißig Jahre, die seitdem kamen und gingen, blieb mir nichts als Engelke (der noch das Beste war) und meine Schwester Adelheid. Gott, verzeih mir's, aber ein Trost war die nicht; immer bloß herbe wie'n Holzapfel.«
Unter solchen Betrachtungen fuhr er in das Dorf ein und hielt gleich danach vor der Tür seines alten Hauses. Engelke war schon da, half ihm und tat sein Bestes, ihn aus der schweren Wolfsschur herauszuwickeln. Der immer noch Fröstelnde stapfte dabei mit den Füßen, warf seinen Staatshut – den er unterwegs, weil er ihn drückte, wohl hundertmal verwünscht hatte – mit ersichtlicher Befriedigung beiseite und sagte gleich danach beim Eintreten in sein Zimmer: »Ach, das is recht, Engelke. Du hast ein Feuer gemacht; du weißt, was einem alten Menschen gut tut. Aber es reicht noch nicht aus. Ob wohl unten noch heißes Wasser ist? So'n fester Grog, der sollte mir jetzt passen; ich friere Stein und Bein.«
»Heiß Wasser is nicht mehr, gnädiger Herr. Aber ich kann ja ne Kasseroll aufstellen. Oder noch besser, ich hole den Petroleumkocher.«
»Nein, nein, Engelke, nicht soviel Umstände. Das mag ich nicht. Und den Petroleumkocher, den erst recht nich; da kriegt man bloß Kopfweh, und ich habe schon genug davon. Aber bringe mir den Kognak und kaltes Wasser. Und wenn man dann so halb und halb nimmt, dann is es so gut, als wär es ganz heiß gewesen.«
Engelke brachte, was gefordert, und eine Viertelstunde danach ging Dubslav zu Bett.
Er schlief auch gleich ein. Aber bald war er wieder wach und druste nur noch so hin. So kam endlich der Morgen heran.
Als Engelke zu gewohnter Stunde das Frühstück brachte, schleppte sich Dubslav mühsamlich von seinem Schlafzimmer bis an den Frühstückstisch. Aber es schmeckte ihm nicht. »Engelke, mir ist schlecht; der Fuß ist geschwollen, und das mit dem Kognak gestern abend war auch nicht richtig. Sage Martin, daß er nach Gransee fährt und Doktor Sponholz mitbringt. Und wenn Sponholz nicht da ist – der arme Kerl kutschiert in einem fort rum; ohne Landpraxis geht es nicht –, dann soll er warten, bis er kommt.«
Es traf sich so, wie Dubslav vermutet hatte; Sponholz war wirklich auf Landpraxis und kam erst nachmittags zurück. Er aß einen Bissen und stieg dann auf den Stechliner Wagen.
»Na, Martin, was macht denn der gnädge Herr?«
»Joa, Herr Doktor, ick möt doch seggen, he seiht en beten verännert ut; em wihr schon nich so recht letzten Sünndag, un doa müßt he joa nu grad nach Berlin. Un ick weet schon, wenn ihrst een nach Berlin muß, denn is ook ümmer wat los. Ick weet nich, wat se doa mit'n ollen Minschen moaken.«
»Ja, Martin, das ist die große Stadt. Da übernehmen sie sich denn. Und dann war ja auch Hochzeit. Da werden sie wohl ein bißchen gepichelt haben. Und vorher die kalte Kirche. Und dazu so viele feine Damen. Daran ist der gnädge Herr nicht mehr gewöhnt, und dann will er sich berappeln und strengt sich an, und da hat man denn gleich was weg.«
Es dämmerte schon, als der kleine Jagdwagen auf der Rampe vorfuhr. Sponholz stieg aus, und Engelke nahm ihm den grauen Mantel mit Doppelkragen ab und auch die hohe Lammfellmütze, darin er – freilich das einzige an ihm, das diese Wirkung ausübte – wie ein Perser aussah.
So trat er denn bei Dubslav ein. Der alte Herr saß an seinem Kamin und sah in die Flamme.
»Nun, Herr von Stechlin, da bin ich. War über Land. Es geht jetzt scharf. Jeder dritte hustet und hat Kopfweh. Natürlich Influenza. Ganz verdeubelte Krankheit.«
»Na, die wenigstens hab ich nicht.«
»Kann man nicht wissen. Ein bißchen fliegt jedem leicht an. Nun, wo sitzt es?«
Dubslav wies auf sein rechtes Bein und sagte: »Stark geschwollen. Und das andre fängt auch an.«
»Hm. Na, wollen mal sehen. Darf ich bitten?«
Dubslav zog sein Beinkleid herauf, den Strumpf herunter und sagte: »Da is die Bescherung. Gicht ist es nicht. Ich habe keine Schmerzen … Also was andres.«
Sponholz tippte mit dem Finger auf dem geschwollenen Fuß herum und sagte dann: »Nichts von Belang, Herr von Stechlin. Einhalten, Diät, wenig trinken, auch wenig Wasser. Das verdammte Wasser drückt gleich nach oben, und dann haben Sie Atemnot. Und von Medizin bloß ein paar Tropfen. Bitte bleiben Sie sitzen; ich weiß ja Bescheid hier.« Und dabei ging er an Dubslavs Schreibtisch heran, schnitt sich ein Stück Papier ab und schrieb ein Rezept. »Ihr Kutscher, das wird das beste sein, kann bei der Apotheke gleich mit vorfahren.«
Im Vorflur, nach Verabschiedung von Dubslav, fuhr Sponholz alsbald wieder in seinen Mantel. Engelke half ihm und sagte dabei: »Na, Herr Doktor?«
»Nichts, nichts, Engelke!«
Martin mit seinem Jagdwagen hielt noch wartend auf der Rampe draußen, und so ging es denn in rascher Fahrt wieder nach der Stadt zurück, von wo der alte Kutscher die Tropfen gleich mitbringen sollte.
Der Winterabend dämmerte schon, als Martin zurück war und die Medizin an Engelke abgab. Der brachte sie seinem Herrn.
»Sieh mal,« sagte dieser, als er das rundliche Fläschchen in Händen hielt, »die Granseer werden jetzt auch fein. Alles in rosa Seidenpapier gewickelt.« Auf einem angebundenen Zettel aber stand: »Herrn Major von Stechlin. Dreimal täglich zehn Tropfen.« Dubslav hielt die kleine Flasche gegen das Licht und tröpfelte die vorgeschriebene Zahl in einen Löffel voll Wasser. Als er sie genommen hatte, bewegte er die Lippen hin und her, etwa wie wenn ein Kenner eine neue Weinsorte probt. Dann nickte er und sagte: »Ja, Engelke, nu geht es los. Fingerhut.«
Der alte Dubslav nahm durch mehrere Tage hin seine Tropfen ganz gewissenhaft und fand auch, daß sich's etwas bessere. Die Geschwulst ging um ein geringes zurück. Aber die Tropfen nahmen ihm den Appetit, so daß er noch weniger aß, als ihm gestattet war.
Es war ein schöner Frühmärzentag, die Mittagszeit schon vorüber. Dubslav saß an der weit offenstehenden Glastür seines Gartensalons und las die Zeitung. Es schien indes, daß ihm das, was er las, nicht sonderlich gefiel. »Ach, Engelke, die Zeitung ist ja soweit ganz gut; nur so für den ganzen Tag ist sie doch zu wenig. Du könntest mir lieber ein Buch bringen.«
»Was für eines?«
»Is egal.«
»Da liegt ja noch das kleine gelbe Buch: ›Keine Lupine mehr!‹«
»Nein, nein; nicht so was. Lupine, davon hab ich schon so viel gelesen; das wechselt in einem fort, und eins ist so dumm wie das andre. Die Landwirtschaft kommt doch nicht wieder obenauf oder wenigstens nicht durch so was. Bringe mir lieber einen Roman; früher in meiner Jugend sagte man Schmöker. Ja, damals waren alle Wörter viel besser als jetzt. Weißt du noch, wie ich mir in dem Jahre, wo ich Zivil wurde, den ersten Schniepel machen ließ? Schniepel is auch solch Wort und doch wahrhaftig besser als Frack. Schniepel hat so was Fideles: Einsegnung, Hochzeit, Kindtaufe.«
»Gott, gnädiger Herr, immer is es doch auch nicht so. Die meisten Schniepel sind doch, wenn einer begraben wird.«
»Richtig, Engelke. Wenn einer begraben wird. Das war ein guter Einfall von dir. Früher würd ich gesagt haben ›zeitgemäß‹; jetzt sagt man ›opportun‹. Hast du schon mal davon gehört?«
»Ja, gnädiger Herr, gehört hab ich schon mal davon.«
»Aber nich verstanden. Na, ich eigentlich auch nich. Wenigstens nicht so recht. Und du, du warst ja nich mal auf Schulen.«
»Nein, gnädiger Herr.«
»Alles in allem, sei froh drüber … Aber, Engelke, wenn du mir nu ein Buch gebracht hast, dann will ich mich mit meinem Stuhl doch lieber gleich auf die Veranda rausrücken. Es ist wie Frühling heut. Solche guten Tage muß man mitnehmen. Und bringe mir auch ne Decke. Früher war ich nich so fürs Pimplige; jetzt aber heißt es: besser bewahrt als beklagt.«
In dem ganzen Dreieck zwischen Rheinsberg, Kloster Wutz und Gransee hatte sich die Nachricht von des alten Dubslav ernster Erkrankung mehr und mehr herumgesprochen, und es war wohl im Zusammenhange damit, daß ungefähr um dieselbe Stunde, wo Dubslav und Engelke sich über »Schniepel« und »opportun« unterhielten, ein Einspänner auf die Stechliner Rampe fuhr, ein etwas sonderbares Gefährt, dem der alte Baruch Hirschfeld langsam und vorsichtig entstieg. Engelke war ihm dabei behilflich und meldete gleich danach, daß der Alte da sei.
»Der alte Baruch! Um Gottes willen, Engelke, was will denn der? Es ist ja doch glücklicherweise nichts los. Und so ganz aus freien Stücken. Na, laß ihn kommen.«
Und Baruch Hirschfeld trat gleich darauf ein.
Dubslav, in seine Decke gewickelt, begrüßte den Alten. »Aber, Baruch, um alles in der Welt, was gibt es? Was bringen Sie? Gleichviel übrigens, ich freue mich, Sie zu sehn. Machen Sie sich's so bequem, wie's auf den drei Latten eines Gartenstuhls überhaupt möglich ist. Und dann noch einmal: Was gibt es? Was bringen Sie?«
»Herr Major wollen entschuldigen, es gibt nichts, und ich bringe auch nichts. Ich kam da bloß so vorbei, Geschäfte mit Herrn von Gundermann, und da wollt ich mir doch die Freiheit genommen haben, mal nach der Gesundheit zu fragen. Habe gehört, der Herr Major seien nicht ganz gut bei Wege.«
»Nein, Baruch, nicht ganz gut bei Wege, beinahe schon schlecht genug. Aber lassen wir das schlimme Neue; das Alte war doch eigentlich besser (das heißt dann und wann), und manchmal denk ich so an alles zurück, was wir so gemeinschaftlich miteinander durchgemacht haben.«
»Und immer glatt, Herr Major, immer glatt, ohne Schwierigkeiten.«
»Ja,« lachte Dubslav, »gemacht hab ich keine Schwierigkeiten, aber gehabt hab ich genug. Und das weiß keiner besser als mein Freund Baruch. Und nun sagen Sie mir vor allem, was macht Ihr Isidor, der große Volksfreund? Ist er mit Torgelow noch zufrieden? Oder sieht er, daß sie da auch mit Wasser kochen? Ich wundere mich bloß, daß ein Sohn von Baruch Hirschfeld, Sohn und Firmateilhaber, so sehr für den Umsturz ist.«
»Nicht für den Umsturz, Herr Major. Isidor, wenn ich so sagen darf, ist für die alte Valuta. Aber nebenher hat er ein Herz für die Menschheit.«
»Hat er? Na, das ist recht.«
»Und das Herz für die Menschheit, das haben wir alle, Herr Major. Und kommt uns dabei was heraus, so haben wir, wenn ich so sagen darf, die Dividende. Gott der Gerechte, wir brauchen's. Und weil ich rede von Dividende, will ich auch reden von Hypothek. Wir haben da seit letzten Freitag 'n Kapital, Granseer Bürger, und will's hergeben zu dreiundeinhalb.«
»Nu, Baruch, das ist hübsch. Aber im Augenblick bin ich's nicht benötigt. Vielleicht später mal mein Woldemar. Der hat, wie Sie wissen, ne reiche Partie gemacht, und wer viel erheiratet, der braucht auch viel. Man denkt immer, ›dann hört es auf‹, aber das ist falsch, dann fängt es erst recht an. Unter allen Umständen seien Sie bedankt, daß Sie mal haben sehen wollen, wie's mit mir steht. Ich kann leider nur wiederholen, schlecht genug. Aber eine Weile dauert es wohl noch. Und wenn auch nicht, mit meinem Sohne wird sich, denk ich, gerade so wie zwischen uns zwei beiden, alles glatt abwickeln, glatter noch, und vielleicht können Sie gemeinschaftlich mal was Nettes herauswirtschaften, was Ordentliches, was Großes, was sich sehen lassen kann. Das heißt dann neue Zeit. Und nun, Baruch, müssen Sie noch ein Glas Sherry nehmen. In unserm Alter ist das immer das beste. Das heißt für Sie, der Sie noch gut im Gange sind. Ich darf bloß noch mit anstoßen.«
Eine Viertelstunde später fuhr Baruch auf seinem Wägelchen wieder in den Stechliner Wald hinein und dachte wenig befriedigt über alles nach, was er da drinnen gehört hatte. Die geträumten Schloß-Stechlin-Tage schienen mit einemmale für immer vorüber. Alles, was der alte Herr da so nebenher von »gemeinschaftlich herauswirtschaften« gesagt hatte, war doch bloß ein Stich, eine Pike gewesen.
Ja, Baruch fühlte was wie Verstimmung. Aber Dubslav auch. Es war ihm zu Sinn, als hätt er seinen alten Granseer Geld- und Geschäftsfreund (trotzdem er dessen letzte Pläne nicht einmal ahnte) zum erstenmal auf etwas Heimlichem und Verstecktem ertappt, und als Engelke kam, um die Sherryflasche wieder wegzuräumen, sagte er: »Engelke, mit Baruch is es auch nichts. Ich dachte wunder, was das für ein Heiliger wär, und nun is der Pferdefuß doch schließlich rausgekommen. Wollte mir da Geld auf Hypothek beinah aufzwingen, als ob ich nicht schon genug davon hätte … Sonderbar, Uncke, mit seinem ewigen ›zweideutig‹, wird am Ende doch recht behalten. Überhaupt solche Polizeimenschen mit nem Karabiner über die Schulter, das sind, bei Lichte besehn, immer die feinsten Menschenkenner. Ich ärgere mich, daß ich's nicht eher gemerkt habe. So dumm zu sein! Aber das mit der ›Krankheit‹ heute, das war mir doch zuviel. Wenn sich die Menschen erst nach Krankheit erkundigen, dann ist es immer schlimm. Eigentlich is es jedem gleich, wie's einem geht. Und ich habe sogar welche gekannt, die sahen sich, wenn sie so fragten, immer schon die Möbel und Bilder an und dachten an nichts wie an Auktion.«