Now reading

Select a chapter

Sections

Start a story to unlock the chapter navigation.

Der Stechlin

Nach dem Eierhäuschen Elftes Kapitel Die Barbys, der alte Graf und seine zwei Töchter, lebten seit einer Reihe von Jahren in Berlin, und zwar am Kronprinzenufer, zwischen Alsen- und Moltkebrücke. Das Haus, dessen erste Etage sie bewohnten, unterschied sich, ohne sonst irgendwie hervorragend zu sein (Berlin ist nicht reich an Privathäusern, die Schönheit und Eigenart in sich vereinigen), immerhin vorteilhaft von seinen Nachbarhäusern, von denen es durch zwei Terrainstreifen getrennt wurde; der eine davon ein kleiner Baumgarten, mit allerlei Buschwerk dazwischen, der andre ein Hofraum mit einem zierlichen, malerisch wirkenden Stallgebäude, dessen obere Fenster, hinter denen sich die Kutscherwohnung befand, von wildem Wein umwachsen waren. Schon diese Lage des Hauses hätte demselben ein bestimmtes Maß von Aufmerksamkeit gesichert, aber auch seine Fassade mit ihren zwei Loggien links und rechts ließ die des Weges Kommenden unwillkürlich ihr Auge darauf richten. Hier, in eben diesen Loggien, verbrachte die Familie mit Vorliebe die Früh- und Nachmittagsstunden und bevorzugte dabei, je nach der Jahreszeit, mal den zum Zimmer des alten Grafen gehörigen, in pompejischem Rot gehaltenen Einbau, mal die gleichartige Loggia, die zum Zimmer der beiden jungen Damen gehörte. Dazwischen lag ein dritter großer Raum, der als Repräsentations- und zugleich als Eßzimmer diente. Das war, mit Ausnahme der Schlaf- und Wirtschaftsräume, das Ganze, worüber man Verfügung hatte; man wohnte mithin ziemlich beschränkt, hing aber sehr an dem Hause, so daß ein Wohnungswechsel, oder auch nur der Gedanke daran, so gut wie ausgeschlossen war. Einmal hatte die liebenswürdige, besonders mit Gräfin Melusine befreundete Baronin Berchtesgaden einen solchen Wohnungswechsel in Vorschlag gebracht, aber nur um sofort einem lebhaften Widerspruche zu begegnen. »Ich sehe schon, Baronin, Sie führen den ganzen Lennéstraßenstolz gegen uns ins Gefecht. Ihre Lennéstraße! Nun ja, wenn's sein muß. Aber was haben Sie da groß? Sie haben den Lessing ganz und den Goethe halb. Und um beides will ich Sie beneiden und Ihnen auch die Spreewaldsammen in Rechnung stellen. Aber die Lennéstraßenwelt ist geschlossen, ist zu, sie hat keinen Blick ins Weite, kein Wasser, das fließt, keinen Verkehr, der flutet. Wenn ich in unsrer Nische sitze, die lange Reihe der herankommenden Stadtbahnwaggons vor mir, nicht zu nah und nicht zu weit, und sehe dabei, wie das Abendrot den Lokomotivenrauch durchglüht und in dem Filigranwerk der Ausstellungsparktürmchen schimmert, was will Ihre grüne Tiergartenwand dagegen?« Und dabei wies die Gräfin auf einen gerade vorüberdampfenden Zug, und die Baronin gab sich zufrieden. Ein solcher Abend war auch heute; die Balkontür stand auf, und ein kleines Feuer im Kamin warf seine Lichter auf den schweren Teppich, der durch das ganze Zimmer hin lag. Es mochte die sechste Stunde sein, und die Fenster drüben an den Häusern der andern Seite standen wie in roter Glut. Ganz in der Nähe des Kamins saß Armgard, die jüngere Tochter, in ihren Stuhl zurückgelehnt, die linke Fußspitze leicht auf den Ständer gestemmt. Die Stickerei, daran sie bis dahin gearbeitet, hatte sie, seit es zu dunkeln begann, aus der Hand gelegt und spielte statt dessen mit einem Ballbecher, zu dem sie regelmäßig griff, wenn es galt, leere Minuten auszufüllen. Sie spielte das Spiel sehr geschickt, und es gab immer einen kleinen hellen Schlag, wenn der Ball in den Becher fiel. Melusine stand draußen auf dem Balkon, die Hand an die Stirn gelegt, um sich gegen die Blendung der untergehenden Sonne zu schützen. »Armgard,« rief sie in das Zimmer hinein, »komm; die Sonne geht eben unter!« »Laß. Ich sehe hier lieber in den Kamin. Und ich habe auch schon zwölfmal gefangen.« »Wen?« »Nun natürlich den Ball.« »Ich glaube, du fingst lieber wen anders. Und wenn ich dich so dasitzen sehe, so kommt es mir fast vor, als dächtest du selber auch so was. Du sitzt so märchenhaft da.« »Ach, du denkst immer nur an Märchen und glaubst, weil du Melusine heißt, du hast so was wie eine Verpflichtung dazu.« »Kann sein. Aber vor allem glaub ich, daß ich es getroffen habe. Weißt du, was?« »Nun?« »Ich kann es so leicht nicht sagen. Du sitzt zu weit ab.« »Dann komm und sag es mir ins Ohr.« »Das ist zuviel verlangt. Denn erstens bin ich die ältere, und zweitens bist du's, die was von mir will. Aber ich will es so genau nicht nehmen.« Und dabei ging Melusine vom Balkon her auf die Schwester zu, nahm ihr das Fangspiel fort und sagte, während sie ihr die Hand auf die Stirn legte: »Du bist verliebt.« »Aber Melusine, was das nun wieder soll! Und wenn man so klug ist wie du … Verliebt. Das ist ja gar nichts; etwas verliebt ist man immer.« »Gewiß. Aber in wen? Da beginnen die Fragen und die Finessen.« In diesem Augenblicke ging die Klingel draußen, und Armgard horchte. »Wie du dich verrätst,« lachte Melusine. »Du horchst und willst wissen, wer kommt.« Melusine wollte noch weiter sprechen, aber die Tür ging bereits auf und Lizzi, die Kammerjungfer der beiden Schwestern, trat ein, unmittelbar hinter ihr ein Gersonscher Livreediener mit einem in einen Riemen geschnallten Karton. »Er bringt die Hüte,« sagte die Kammerjungfer. »Ah, die Hüte. Ja, Armgard, da müssen wir freilich unsre Frage vertagen. Was doch wohl auch deine Meinung ist. Bitte, stellen Sie hin. Aber Lizzi, du, du bleibst und mußt uns helfen; du hast einen guten Geschmack. Übrigens, ist kein Stehspiegel da?« »Soll ich ihn holen?« »Nein, nein, laß. Unsre Köpfe, worauf es doch bloß ankommt, können wir schließlich auch in diesem Spiegel sehen … Ich denke, Armgard, du läßt mir die Vorhand; dieser hier mit dem Heliotrop und den Stiefmütterchen, der ist natürlich für mich; er hat den richtigen Frauencharakter, fast schon Witwe.« Unter diesen Worten setzte sie sich den Hut auf und trat an den Spiegel. »Nun, Lizzi, sprich.« »Ich weiß nicht recht, Frau Gräfin, er scheint mir nicht modern genug. Der, den Komtesse Armgard eben aufsetzt, der würde wohl auch für Frau Gräfin besser passen – die hohen Straußfedern, wie ein Ritterhelm, und auch die Hutform selbst. Hier ist noch einer, fast ebenso und beinah noch hübscher.« Beide Damen stellten sich jetzt vor den Spiegel; Armgard, hinter der Schwester stehend und größer als diese, sah über deren linke Schulter fort. Beide gefielen sich ungemein, und schließlich lachten sie, weil jede der andern ansah, wie hübsch sie sich fand. »Ich möchte doch beinah glauben …,« sagte Melusine, kam aber nicht weiter, denn in eben diesem Augenblicke trat ein in schwarzen Frack und Escarpins gekleideter alter Diener ein und meldete: »Rittmeister von Stechlin.« Unmittelbar darauf erschien denn auch Woldemar selbst und verbeugte sich gegen die Damen. »Ich fürchte, daß ich zu sehr ungelegener Stunde komme.« »Ganz im Gegenteil, lieber Stechlin. Um wessentwillen quälen wir uns denn überhaupt mit solchen Sachen? Doch bloß um unsrer Gebieter willen, die man ja (vielleicht leider) auch noch hat, wenn man sie nicht mehr hat.« »Immer die liebenswürdige Frau.« »Keine Schmeicheleien. Und dann, diese Hüte sind wichtig. Ich nehm es als eine Fügung, daß Sie da gerade hinzukommen; Sie sollen entscheiden. Wir haben freilich schon Lizzis Meinung angerufen, aber Lizzi ist zu diplomatisch; Sie sind Soldat und müssen mehr Mut haben; Armgard, sprich auch; du bist nicht mehr jung genug, um noch ewig die Verlegene zu spielen. Ich bin sonst gegen alle Gutachten, namentlich in Prozeßsachen (ich weiß ein Lied davon zu singen), aber ein Gutachten von Ihnen, da laß ich all meine Bedenken fallen. Außerdem bin ich für Autoritäten, und wenn es überhaupt Autoritäten in Sachen von Geschmack und Mode gibt, wo wären sie besser zu finden als im Regiment Ihrer Kaiserlich Königlichen Majestät von Großbritannien und Indien? Irland laß ich absichtlich fallen und nehme lieber Indien, woher aller gute Geschmack kommt, alle alte Kultur, alle Schals und Teppiche, Buddha und die weißen Elefanten. Also antreten, Armgard; du natürlich an den rechten Flügel, denn du bist größer. Und nun, lieber Stechlin, wie finden Sie uns?« »Aber, meine Damen …« »Keine Feigheiten. Wie finden Sie uns?« »Unendlich nett.« »Nett? Verzeihen Sie, Stechlin, nett ist kein Wort. Wenigstens kein nettes Wort. Oder wenigstens ungenügend.« »Also schlankweg entzückend.« »Das ist gut. Und zur Belohnung die Frage: wer ist entzückender?« »Aber Frau Gräfin, das ist ja die reine Geschichte mit dem seligen Paris. Bloß, er hatte es viel leichter, weil es drei waren. Aber zwei. Und noch dazu Schwestern.« »Wer? Wer?« »Nun, wenn es denn durchaus sein muß, Sie, gnädigste Frau.« »Schändlicher Lügner. Aber wir behalten diese zwei Hüte. Lizzi, gib all das andre zurück. Und Jeserich soll die Lampen bringen; draußen ein Streifen Abendrot und hier drinnen ein verglimmendes Feuer, – das ist denn doch zu wenig oder, wenn man will, zu gemütlich.« Die Lampen hatten draußen schon gebrannt, so daß sie gleich da waren. »Und nun schließen Sie die Balkontür, Jeserich, und sagen Sie's Papa, daß der Herr Rittmeister gekommen. Papa ist nicht gut bei Wege, wieder die neuralgischen Schmerzen; aber wenn er hört, daß Sie da sind, so tut er ein übriges. Sie wissen, Sie sind sein Verzug. Man weiß immer, wenn man Verzug ist. Ich wenigstens hab es immer gewußt.« »Das glaub ich.« »Das glaub ich! Wie wollen Sie das erklären?« »Einfach genug, gnädigste Gräfin. Jede Sache will gelernt sein. Alles ist schließlich Erfahrung. Und ich glaube, daß Ihnen reichlich Gelegenheit gegeben wurde, der Frage ›Verzug oder Nichtverzug‹ praktisch näherzutreten.« »Gut herausgeredet. Aber nun, Armgard, sage dem Herrn von Stechlin (ich persönlich getraue mich's nicht), daß wir in einer halben Stunde fort müssen, Opernhaus, ›Tristan und Isolde‹. Was sagen Sie dazu? Nicht zu Tristan und Isolde, nein, zu der heikleren Frage, daß wir eben gehen, im selben Augenblick, wo Sie kommen. Denn ich seh es Ihnen an, Sie kamen nicht so bloß um ›five o'clock tea's‹ willen, Sie hatten es besser mit uns vor. Sie wollten bleiben …« »Ich bekenne …« »Also getroffen. Und zum Zeichen, daß Sie großmütig sind und Verzeihung üben, versprechen Sie, daß wir Sie bald wiedersehen, recht, recht bald. Ihr Wort darauf. Und dem Papa, der Sie vielleicht erwartet, wenn es Jeserich für gut befunden hat, die Meldung auszurichten, – dem Papa werd ich sagen, Sie hätten nicht bleiben können, eine Verabredung, Klub oder sonst was.« Während Woldemar nach diesem abschließenden Gespräch mit Melusine die Treppe hinabstieg und auf den nächsten Droschkenstand zuschritt, saß der alte Graf in seinem Zimmer und sah, den rechten Fuß auf einen Stuhl gelehnt, durch das Balkonfenster auf den Abendhimmel. Er liebte diese Dämmerstunde, drin er sich nicht gerne stören ließ (am wenigsten gern durch vorzeitig gebrachtes Licht), und als Jeserich, der das also wußte, jetzt eintrat, war es nicht, um dem alten Grafen die Lampe zu bringen, sondern nur um ein paar Kohlen aufzuschütten. »Wer war denn da, Jeserich?« »Der Herr Rittmeister.« »So, so. Schade, daß er nicht geblieben ist. Aber freilich, was soll er mit mir? Und der Fuß und die Schmerzen, dadurch wird man auch nicht interessanter. Armgard und nun gar erst Melusine, ja, da geht es, da redet sich's schon besser, und das wird der Rittmeister wohl auch finden. Aber soviel ist richtig, ich spreche gern mit ihm; er hat so was Ruhiges und Gesetztes und immer schlicht und natürlich. Meinst du nicht auch?« Jeserich nickte. »Und glaubst du nicht auch (denn warum käme er sonst so oft), daß er was vorhat?« »Glaub ich auch, Herr Graf.« »Na, was glaubst du?« »Gott, Herr Graf …« »Ja, Jeserich, du willst nicht raus mit der Sprache. Das hilft dir aber nichts. Wie denkst du dir die Sache?« Jeserich schmunzelte, schwieg aber weiter, weshalb dem alten Grafen nichts übrig blieb, als seinerseits fortzufahren. »Natürlich paßt Armgard besser, weil sie jung ist; es ist so mehr das richtige Verhältnis, und überhaupt, Armgard ist sozusagen dran. Aber, weiß der Teufel, Melusine …« »Freilich, Herr Graf.« »Also du hast doch auch so was gesehen. Alles dreht sich immer um die. Wie denkst du dir nun den Rittmeister? Und wie denkst du dir die Damen? Und wie steht es überhaupt? Ist es die oder ist es die?« »Ja, Herr Graf, wie soll ich darüber denken? Mit Damen weiß man ja nie – vornehm und nicht vornehm, klein und groß, arm und reich, das is all eins. Mit unsrer Lizzi is es gerad ebenso wie mit Gräfin Melusine. Wenn man denkt, es is so, denn is es so, und wenn man denkt, es is so, denn is es wieder so. Wie meine Frau noch lebte, Gott habe sie selig, die sagte auch immer: ›Ja, Jeserich, was du dir bloß denkst; wir sind eben ein Rätsel.‹ Ach Gott, sie war ja man einfach, aber das können Sie mir glauben, Herr Graf, so sind sie alle.« »Hast ganz recht, Jeserich. Und deshalb können wir auch nicht gegen an. Und ich freue mich, daß du das auch so scharf aufgefaßt hast. Du bist überhaupt ein Menschenkenner. Wo du's bloß her hast? Du hast so was von nem Philosophen. Hast du schon mal einen gesehen?« »Nein, Herr Graf. Wenn man so viel zu tun hat und immer Silber putzen muß.« »Ja, Jeserich, das hilft doch nu nich, davon kann ich dich nicht freimachen …« »Nein, so mein ich es ja auch nich, Herr Graf, und ich bin ja auch fürs Alte. Gute Herrschaft und immer denken, ›man gehört so halb wie mit dazu,‹ – dafür bin ich. Und manche sollen ja auch halb mit dazu gehören … Aber ein bißchen anstrengend is es doch mitunter, und man is doch am Ende auch ein Mensch …« »Na, höre, Jeserich, das hab ich dir doch noch nicht abgesprochen.« »Nein, nein, Herr Graf. Gott, man sagt so was bloß. Aber ein bißchen is es doch damit …« Zwölftes Kapitel Woldemar – wie Rex seinem Freunde Czako, als beide über den Cremmer Damm ritten, ganz richtig mitgeteilt hatte – verkehrte seit Ausgang des Winters im Barbyschen Hause, das er sehr bald vor andern Häusern seiner Bekanntschaft bevorzugte. Vieles war es, was ihn da fesselte, voran die beiden Damen; aber auch der alte Graf. Er fand Ähnlichkeiten, selbst in der äußern Erscheinung, zwischen dem Grafen und seinem Papa, und in seinem Tagebuche, das er, trotz sonstiger Modernität, in altmodischer Weise von jung an führte, hatte er sich gleich am ersten Abend über eine gewisse Verwandtschaft zwischen den beiden geäußert. Es hieß da unterm achtzehnten April: »Ich kann Wedel nicht dankbar genug sein, mich bei den Barbys eingeführt zu haben; alles, was er von dem Hause gesagt, fand ich bestätigt. Diese Gräfin, wie charmant, und die Schwester ebenso, trotzdem größere Gegensätze kaum denkbar sind. An der einen alles Temperament und Anmut, an der andern alles Charakter oder, wenn das zuviel gesagt sein sollte, Schlichtheit, Festigkeit. Es bleibt mit den Namen doch eine eigene Sache; die Gräfin ist ganz Melusine und die Komtesse ganz Armgard. Ich habe bis jetzt freilich nur eine dieses Namens kennen gelernt, noch dazu bloß als Bühnenfigur, und ich mußte beständig an diese denken, wie sie da (ich glaube, es war Fräulein Stolberg, die ja auch das Maß hat) dem Landvogt so mutig in den Zügel fällt. Ganz so wirkt Komtesse Armgard! Ich möchte beinah sagen, es läßt sich an ihr wahrnehmen, daß ihre Mutter eine richtige Schweizerin war. Und dazu der alte Graf! Wie ein Zwillingsbruder von Papa; derselbe Bismarckkopf, dasselbe humane Wesen, dieselbe Freundlichkeit, dieselbe gute Laune. Papa ist aber ausgiebiger und auch wohl origineller. Vielleicht hat der verschiedene Lebensgang diese Verschiedenheiten erst geschaffen. Papa sitzt nun seit richtigen dreißig Jahren in seinem Ruppiner Winkel fest, der Graf war ebensolange draußen! Ein Botschaftsrat ist eben was anderes als ein Ritterschaftsrat, und an der Themse wächst man sich anders aus als am ›Stechlin‹ – unsern Stechlin dabei natürlich in Ehren. Trotzdem, die Verwandtschaft bleibt. Und der alte Diener, den sie Jeserich nennen, der ist nun schon ganz und gar unser Engelke vom Kopf bis zur Zeh. Aber was am verwandtesten ist, das ist doch die gesamte Hausatmosphäre, das Liberale. Papa selbst würde zwar darüber lachen – er lacht über nichts so sehr wie über Liberalismus –, und doch kenne ich keinen Menschen, der innerlich so frei wäre, wie gerade mein guter Alter. Zugeben wird er's freilich nie und wird in dem Glauben sterben: ›Morgen tragen sie einen echten alten Junker zu Grabe.‹ Das ist er auch, aber doch auch wieder das volle Gegenteil davon. Er hat keine Spur von Selbstsucht. Und diesen schönen Zug (ach, so selten), den hat auch der alte Graf. Nebenher freilich ist er Weltmann, und das gibt dann den Unterschied und das Übergewicht. Er weiß – was sie hierzulande nicht wissen oder nicht wissen wollen –, daß hinterm Berge auch noch Leute wohnen. Und mitunter noch ganz andre.« Das waren die Worte, die Woldemar in sein Tagebuch eintrug. Von allem, was er gesehen, war er angenehm berührt worden, auch von Haus und Wohnung. Und dazu war guter Grund da, mehr als er nach seinem ersten Besuche wissen konnte. Das von der gräflichen Familie bewohnte Haus mit seinen Loggien und seinem diminutiven Hof und Garten teilte sich in zwei Hälften, von denen jede noch wieder ihre besondern Annexe hatte. Zu der Beletage gehörte das zur Seite gelegene pittoreske Hof- und Stallgebäude, drin der gräfliche Kutscher, Herr Imme, residierte, während zu dem die zweite Hälfte des Hauses bildenden Hochparterre ziemlich selbstverständlich noch das kleine niedrige Souterrain gerechnet wurde, drin, außer Portier Hartwig selbst, dessen Frau, sein Sohn Rudolf und seine Nichte Hedwig wohnten. Letztere freilich nur zeitweilig, und zwar immer nur dann, wenn sie, was allerdings ziemlich häufig vorkam, mal wieder ohne Stellung war. Die Wirtin des Hauses, Frau Hagelversicherungssekretär Schickedanz, hätte diesen gelegentlichen Aufenthalt der Nichte Hartwigs eigentlich beanstanden müssen, ließ es aber gehen, weil Hedwig ein heiteres, quickes und sehr anstelliges Ding war und manches besaß, was die Schickedanz mit der Ungehörigkeit des ewigen Dienstwechsels wieder aussöhnte. Die Schickedanz, eine Frau von sechzig, war schon verwitwet, als im Herbst fünfundachtzig die Barbys einzogen, Komtesse Armgard damals erst zehnjährig. Frau Schickedanz selbst war um jene Zeit noch in Trauer, weil ihr Gatte, der Versicherungssekretär, erst im Dezember des vorausgegangenen Jahres gestorben war, »drei Tage vor Weihnachten«, ein Umstand, auf den der Hilfsprediger, ein junger Kandidat, in seiner Leichenrede beständig hingewiesen und die gewollte Wirkung auch richtig erzielt hatte. Allerdings nur bei der Schickedanz selbst und einigermaßen auch bei der Frau Hartwig, die während der ganzen Rede beständig mit dem Kopf genickt und nachträglich ihrem Manne bemerkt hatte: »Ja. Hartwig, da liegt doch was drin.« Hartwig selber indes, der, im Gegensatz zu den meisten seines Standes, humoristisch angeflogen war, hatte für die merkwürdige Fügung von »drei Tage vor Weihnachten« nicht das geringste Verständnis gezeigt, vielmehr nur die Bemerkung dafür gehabt: »Ich weiß nicht, Mutter, was du dir eigentlich dabei denkst? Ein Tag ist wie der andre; mal muß man ran,« – worauf die Frau jedoch geantwortet hatte: »Ja, Hartwig, das sagst du so immer; aber wenn du dran bist, dann redst du anders.« Der verstorbene Schickedanz hatte, wie der Tod ihn ankam, ein Leben hinter sich, das sich in zwei sehr verschiedene Hälften, in eine ganz kleine unbedeutende und in eine ganz große, teilte. Die unbedeutende Hälfte hatte lange gedauert, die große nur ganz kurz. Er war ein Ziegelstreichersohn aus dem bei Potsdam gelegenen Dorfe Kaputt, was er, als er aus dem diesem Dorfnamen entsprechenden Zustande heraus war, in Gesellschaft guter Freunde gern hervorhob. Es war so ziemlich der einzige Witz seines Lebens, an dem er aber zäh festhielt, weil er sah, daß er immer wieder wirkte. Manche gingen so weit, ihm den Witz auch noch moralisch gutzuschreiben und behaupteten: Schickedanz sei nicht bloß ein Charakter, sondern auch eine bescheidene Natur. Ob dies zutraf, wer will es sagen! Aber das war sicher, daß er sich von Anfang an als ein aufgeweckter Junge gezeigt hatte. Schon mit sechzehn war er als Hilfsschreiber in die deutsch-englische Hagelversicherungsgesellschaft Pluvius eingetreten und hatte mit sechsundsechzig sein fünfzigjähriges Dienstjubiläum in eben dieser Gesellschaft gefeiert. Das war aus bestimmten Gründen ein großer Tag gewesen. Denn als Schickedanz ihn erlebte, hieß er nur noch so ganz obenhin »Herr Versicherungssekretär«, war aber in Wahrheit über diesen seinen Titel weit hinausgewachsen und besaß bereits das schöne Haus am Kronprinzenufer. Er hatte sich das leisten können, weil er im Laufe der letzten fünf Jahre zweimal hintereinander ein Viertel vom großen Lose gewonnen hatte. Dies sah er sich allerseits als persönliches Verdienst angerechnet und auch wohl mit Recht. Denn arbeiten kann jeder, das große Los gewinnen kann nicht jeder. Und so blieb er denn bei der Versicherungsgesellschaft lediglich nur noch als verhätscheltes Zierstück, weil es damals wie jetzt einen guten Eindruck machte, Personen der Art im Dienst oder gar als Teilnehmer zu haben. An der Spitze muß immer ein Fürst stehen. Und Schickedanz war jetzt Fürst. Alles drängte sich nicht bloß an ihn, sondern seine Stammtischfreunde, die zu seiner zweimal bewährten Glückshand ein unbedingtes Vertrauen hatten, drangen sogar eine Zeitlang in ihn, die Lotterielose für sie zu ziehen. Aber keiner gewann, was schließlich einen Umschlag schuf und einzelne von »bösem Blick« und sogar ganz unsinnigerweise von Mogelei sprechen ließ. Die meisten indessen hielten es für klug, ihr Übelwollen zurückzuhalten; war er doch immerhin ein Mann, der jedem, wenn er wollte, Deckung und Stütze geben konnte. Ja, Schickedanz' Glück und Ansehen waren groß, am größten natürlich an seinem Jubiläumstage. Nicht zu glauben, wer da alles kam. Nur ein Orden kam nicht, was denn auch von einigen Schickedanzfanatikern sehr mißliebig bemerkt wurde. Besonders schmerzlich empfand es die Frau. »Gott, er hat doch immer so treu gewählt,« sagte sie. Sie kam aber nicht in die Lage, sich in diesen Schmerz einzuleben, da schon die nächsten Zeiten bestimmt waren, ihr Schwereres zu bringen. Am 21. September war das Jubiläum gewesen, am 21. Oktober erkrankte er, am 21. Dezember starb er. Auf dem Notizenzettel, den man damals dem Kandidaten zugestellt hatte, hatte dieser dreimal wiederkehrende »einundzwanzigste« gefehlt, was alles in allem wohl als ein Glück angesehen werden konnte, weil, entgegengesetztenfalls die »drei Tage vor Weihnachten« entweder gar nicht zustande gekommen oder aber durch eine geteilte Herrschaft in ihrer Wirkung abgeschwächt worden wären. Schickedanz war bei voller Besinnung gestorben. Er rief, kurz vor seinem Ende, seine Frau an sein Bett und sagte: »Riekchen, sei ruhig. Jeder muß. Ein Testament hab ich nicht gemacht. Es gibt doch bloß immer Zank und Streit. Auf meinem Schreibtisch liegt ein Briefbogen, drauf hab ich alles Nötige geschrieben. Viel wichtiger ist mir das mit dem Haus. Du mußt es behalten, damit die Leute sagen können: ›Da wohnt Frau Schickedanz.‹ Hausname, Straßenname, das ist überhaupt das Beste. Straßenname dauert noch länger als Denkmal.« »Gott, Schickedanz, sprich nicht so viel; es strengt dich an. Ich will es ja alles heilig halten, schon aus Liebe …« »Das ist recht, Riekchen. Ja, du warst immer eine gute Frau, wenn wir auch keine Nachfolge gehabt haben. Aber darum bitte ich dich, vergiß nie, daß es meine Puppe war. Du darfst bloß vornehme Leute nehmen; reiche Leute, die bloß reich sind, nimm nicht; die quängeln bloß und schlagen große Haken in die Türfüllung und hängen eine Schaukel dran. Überhaupt, wenn es sein kann, keine Kinder. Hartwigen unten mußt du behalten; er ist eigentlich ein Klugschmus, aber die Frau ist gut. Und der kleine Rudolf, mein Patenkind, wenn er ein Jahr alt wird, soll er hundert Taler kriegen. Taler, nicht Mark. Und der Schullehrer in Kaputt soll auch hundert Taler kriegen. Der wird sich wundern. Aber darauf freu ich mich schon. Und auf dem Invalidenkirchhof will ich begraben sein, wenn es irgend geht. Invalide ist ja doch eigentlich jeder. Und anno siebzig war ich doch auch mit Liebesgaben bis dicht an den Feind, trotzdem Luchterhand immer sagte: ›Nicht so nah ran.‹ Sei freundlich gegen die Leute und nicht zu sparsam (du bist ein bißchen zu sparsam) und bewahre mir einen Platz in deinem Herzen. Denn treu warst du, das sagt mir eine innere Stimme.« Diesem allem hatte Riekchen seitdem gelebt. Die Beletage, die leer stand, als Schickedanz starb, blieb noch drei Vierteljahre unbewohnt, trotzdem sich viele Herrschaften meldeten. Aber sie deckten sich nicht mit der Forderung, die Schickedanz vor seinem Hinscheiden gestellt hatte. Herbst fünfundachtzig kamen dann die Barbys. Die kleine Frau sah gleich »ja, das sind die, die mein Seliger gemeint hat«. Und sie hatte wirklich richtig gewählt. In den fast zehn Jahren, die seitdem verflossen waren, war es auch nicht ein einziges Mal zu Konflikten gekommen, mit der gräflichen Familie schon gewiß nicht, aber auch kaum mit den Dienerschaften. Ein persönlicher Verkehr zwischen Erdgeschoß und Beletage konnte natürlich nicht stattfinden, – Hartwig war einfach der alter ego, der mit Jeserich alles Nötige durchzusprechen hatte. Kam es aber ausnahmsweise zwischen Wirtin und Mieter zu irgendeiner Begegnung, so bewahrte dabei die kleine winzige Frau (die nie »viel« war und seit ihres Mannes Tode noch immer weniger geworden war) eine merkwürdig gemessene Haltung, die jedem mit dem Berliner Wesen Unvertrauten eine Verwunderung abgenötigt haben würde. Riekchen empfand sich nämlich in solchem Augenblicke durchaus als »Macht gegen Macht«. Wie beinah jedem hierlandes Geborenen, war auch ihr die Gabe wirklichen Vergleichenkönnens völlig versagt, weil jeder echte, mit Spreewasser getaufte Berliner, männlich oder weiblich, seinen Zustand nur an seiner eigenen kleinen Vergangenheit, nie aber an der Welt draußen mißt, von der er, wenn er ganz echt ist, weder eine Vorstellung hat noch überhaupt haben will. Der autochthone »Kellerwurm«, wenn er fünfzig Jahre später in eine Steglitzer Villa zieht, bildet – auch wenn er seiner Natur nach eigentlich der bescheidenste Mensch ist – eine gewisse naive Krösusvorstellung in sich aus und glaubt ganz ernsthaft, jenen Gold- und Silberkönigen zuzugehören, die die Welt regieren. So war auch die Schickedanz. Hinter einem Dachfenster in der Georgenkirchstraße geboren, an welchem Dachfenster sie später für ein Weißzeuggeschäft genäht hatte, kam ihr ihr Leben, wenn sie rückblickte, wie ein Märchen vor, drin sie die Rolle der Prinzessin spielte. Dementsprechend durchdrang sie sich, still aber stark, mit einem Hochgefühl, das sowohl Geld- wie Geburtsgrößen gegenüber auf Ebenbürtigkeit lossteuerte. Sie rangierte sich ein und wies sich, soweit ihre historische Kenntnis das zuließ, einen ganz bestimmten Platz an: Fürst Dolgorucki, Herzog von Devonshire, Schickedanz. Die Treue, die der Verstorbene noch in seinen letzten Augenblicken ihr nachgerühmt hatte, steigerte sich mehr und mehr zum Kult. Die Vormittagsstunden jedes Tages gehörten dem hohen Palisanderschrank an, drin die Jubiläumsgeschenke wohlgeordnet standen: ein großer Silberpokal mit einem drachentötenden Sankt Georg auf dem Deckel, ein Album mit photographischen Aufnahmen aller Sehenswürdigkeiten von Kaputt, eine große Huldigungsadresse mit Aquarellarabesken, mehrere Lieder in Prachtdruck (darunter ein Kegelklublied mit dem Refrain »alle Neune«), Riesensträuße von Sonnenblumen, ein Oreiller mit dem Eisernen Kreuz und einem aufgehefteten Gedicht, von einem Damenkomitee herrührend, in dessen Auftrag er, Schickedanz, die Liebesgaben bis vor Paris gebracht hatte. Neben dem Schrank, auf einer Ebenholzsäule, stand eine Gipsbüste, Geschenk eines dem Stammtisch angehörigen Bildhauers, der daraufhin einen leider ausgebliebenen Auftrag in Marmor erwartet hatte. Fauteuils und Stühle steckten in großblumigen Überzügen, desgleichen der Kronleuchter in einem Gazemantel, und an den Frontfenstern standen, den ganzen Winter über, Maiblumen. Riekchen trug auch Maiblumen auf jeder ihrer Hauben, war überhaupt, seit das Trauerjahr um war, immer hell gekleidet, wodurch ihre Gestalt noch unkörperlicher wirkte. Jeden ersten Montag im Monat war allgemeines Reinmachen, auch bei Wind und Kälte. Dies war immer ein Tag größter Aufregung, weil jedesmal etwas zerbrochen oder umgestoßen wurde. Das blieb auch so durch Jahre hin, bis das Auftreten von Hedwig, die sich einer sehr geschickten Hand erfreute, Wandel in diesem Punkte schaffte. Die Nippsachen zerbrachen nun nicht mehr, und Riekchen war um so glücklicher darüber, als Hartwigs hübsche Nichte, wenn sie mal wieder den Dienst gekündigt hatte, regelmäßig allerlei davon zu erzählen und mit immer neuen und oft sehr intrikaten Geschichten ins Feld zu rücken wußte. Die Barbys hatten alle Ursache, mit dem Schickedanzschen Hause zufrieden zu sein. Nur eines störte, das war, daß jeden Mittwoch und Sonnabend die Teppiche geklopft wurden, immer gerade zu der Stunde, wo der alte Graf seine Nachmittagsruhe halten wollte. Das verdroß ihn eine Weile, bis er schließlich zu dem Ergebnis kam: »Eigentlich bin ich doch selber schuld daran. Warum setz ich mich immer wieder in die Hinterstube, statt einfach vorn an mein Fenster? Immer hasardier ich wieder und denke: heute bleibt es vielleicht ruhig; willst es doch noch mal versuchen.« Ja, der alte Graf war nicht bloß froh, die Wohnung zu haben, er hielt auch beinah abergläubisch an ihr fest. So lange er darin wohnte, war es ihm gut ergangen, nicht glänzender als früher, aber sorgenloser. Und das sagte er sich jeden neuen Tag. Sein Leben, so bunt es gewesen, war trotzdem in gewissem Sinne durchschnittsmäßig verlaufen, ganz so wie das Leben eines preußischen »Magnaten« (worunter man in der Regel Schlesier versteht; aber es gibt doch auch andre) zu verlaufen pflegt. Im Juli dreißig, gerade als die Franzosen Algier bomdardierten und nebenher das Haus Bourbon endgültig beseitigten, war der Graf auf einem der an der mittleren Elbe gelegenen Barbyschen Güter geboren worden. Auf eben diesem Gute – das landwirtschaftlich einer von fremder Hand geführten Administration unterstand – vergingen ihm die Kinderjahre; mit zwölf kam er dann auf die Ritterakademie, mit achtzehn in das Regiment Garde-du-Corps, drin die Barbys standen, solang es ein Regiment Garde-du-Corps gab. Mit dreißig war er Rittmeister und führte eine Schwadron. Aber nicht lange mehr. Auf einem in der Nähe von Potsdam veranstalteten Kavalleriemanöver stürzte er unglücklich und brach den Oberschenkel, unmittelbar unter der Hüfte. Leidlich genesen, ging er nach Ragaz, um dort völlige Wiederherstellung zu suchen, und machte hier die Bekanntschaft eines alten Freiherrn von Planta, der ihn alsbald auf seine Besitzungen einlud. Weil diese ganz in der Nähe lagen, nahm er die Einladung nach Schloß Schuder an. Hier blieb er länger als erwartet, und als er das schön gelegene Bergschloß wieder verließ, war er mit der Tochter und Erbin des Hauses verlobt. Es war eine große Neigung, was sie zusammenführte. Die junge Freiin drang alsbald in ihn, den Dienst zu quittieren, und er entsprach dem um so lieber, als er seiner völligen Wiederherstellung nicht ganz sicher war. Er nahm also den Abschied und trat aus dem militärischen in den diplomatischen Dienst über, wozu seine Bildung, sein Vermögen, seine gesellschaftliche Stellung ihn gleichmäßig geeignet erscheinen ließen. Noch im selben Jahre ging er nach London, erst als Attaché, wurde dann Botschaftsrat und blieb in dieser Stellung zunächst bis in die Tage der Aufrichtung des Deutschen Reiches. Seine Beziehungen sowohl zu der heimisch-englischen wie zu der außerenglischen Aristokratie waren jederzeit die besten, und sein Freundschaftsverhältnis zu Baron und Baronin Berchtesgaden entstammte jener Zeit. Er hing sehr an London. Das englische Leben, an dem er manches, vor allem die geschraubte Kirchlichkeit, beanstandete, war ihm trotzdem außerordentlich sympathisch, und er hatte sich daran gewöhnt, sich als verwachsen damit anzusehen. Auch seine Familie, die Frau und die zwei Töchter – beide, wenn auch in großem Abstande, während der Londoner Tage geboren – teilten des Vaters Vorliebe für England und englisches Leben. Aber ein harter Schlag warf alles um, was der Graf geplant: die Frau starb plötzlich, und der Aufenthalt an der ihm so lieb gewordenen Stätte war ihm vergällt. Er nahm in der ersten Hälfte der achtziger Jahre seine Demission, ging zunächst auf die Plantaschen Güter nach Graubünden und dann weiter nach Süden, um sich in Florenz seßhaft zu machen. Die Luft, die Kunst, die Heiterkeit der Menschen, alles tat ihm hier wohl, und er fühlte, daß er genas, soweit er wieder genesen konnte. Glückliche Tage brachen für ihn an, und sein Glück schien sich noch steigern zu sollen, als sich die ältere Tochter mit dem italienischen Grafen Ghiberti verlobte. Die Hochzeit folgte beinah unmittelbar. Aber die Fortdauer dieser Ehe stellte sich bald als eine Unmöglichkeit heraus, und ehe ein Jahr um war, war die Scheidung ausgesprochen. Kurze Zeit danach kehrte der Graf nach Deutschland zurück, das er, seit einem Vierteljahrhundert, immer nur flüchtig und besuchsweise wiedergesehen hatte. Sich auf das eine oder andere seiner Elbgüter zu begeben, widerstand ihm auch jetzt noch, und so kam es, daß er sich für Berlin entschied. Er nahm Wohnung am Kronprinzenufer und lebte hier ganz sich, seinem Hause, seinen Töchtern. Von dem Verkehr mit der großen Welt hielt er sich so weit wie möglich fern, und nur ein kleiner Kreis von Freunden, darunter auch die durch einen glücklichen Zufall ebenfalls von London nach Berlin verschlagenen Berchtesgadens waren, versammelte sich um ihn. Außer diesen alten Freunden waren es vorzugsweise Hofprediger Frommel, Doktor Wrschowitz und seit letztem Frühjahr auch Rittmeister von Stechlin, die den Barbyschen Kreis bildeten. An Woldemar hatte man sich rasch attachiert, und die freundlichen Gefühle, denen er bei dem alten Grafen sowohl wie bei den Töchtern begegnete, wurden von allen Hausbewohnern geteilt. Selbst die Hartwigs interessierten sich für den Rittmeister, und wenn er abends an der Portierloge vorüberkam, guckte Hedwig neugierig durch das Fensterchen und sagte: »So einen, – ja, das lass' ich mir gefallen.«
Prev
Elftes Kapitel & Zwölftes Kapitel8 / 26
Next