Sephardi dachte einen Augenblick nach. — „Die Übereinstimmung, die ich erklären soll, scheint mir zu beweisen, daß es ein und derselbe ‚neue‘ Gedanke ist, der sich Ihnen allen dreien aufdrängen und verständlich machen wollte, beziehungsweise: noch machen will. Daß das Phantom unter der Maske eines Urmenschen auftritt, bedeutet, denke ich, nichts anderes, als: ein Wissen, eine Erkenntnis, sogar vielleicht eine außerordentliche seelische Fähigkeit, die einstmals in längst vergangenen Zeiten des Menschengeschlechts existiert hatte, bekannt war und in Vergessenheit geriet, will wiederum neu werden, und ihr Kommen in die Welt gibt sich als Vision einigen wenigen Auserlesenen kund. — Verstehen Sie mich nicht falsch, ich sage nicht, daß das Phantom etwa kein selbständig existierendes Wesen sein könnte, — im Gegenteil, ich behaupte sogar: jeder Gedanke ist ein solches Wesen. — Der Vater Fräulein Eva’s hat übrigens den Ausspruch getan: ‚Er — der Vorläufer — ist der einzige Mensch, der kein Gespenst ist‘. “
„Vielleicht verstand mein Vater darunter, dieser Vorläufer sei ein Wesen, das die Unsterblichkeit erlangt hat. Glauben Sie nicht? “
Sephardi wiegte bedächtig den Kopf. — „Wenn jemand unsterblich wird, Fräulein Eva, bleibt er als unvergänglicher Gedanke bestehen; gleichgültig, ob er zu unsern Gehirnen als Wort oder als Bild Zutritt zu erlangen vermag. Sind die Menschen, die auf Erden leben, unfähig, ihn zu erfassen oder zu „denken “, — so stirbt er deswegen noch nicht; er wird ihnen nur ferne gerückt. — — — Um auf den Disput mit Baron Pfeill zurückzukommen: ich wiederhole, ich kann als Jude von dem Gott meiner Väter nicht weg. Die Religion der Juden ist in ihrer Wurzel eine Religion selbstgewählter und absichtlicher Schwäche, — ist ein Hoffen auf Gott und das Kommen des Messias. Es gibt, ich weiß, auch einen Weg der Kraft. Baron Pfeill hat ihn angedeutet. Das Ziel bleibt dasselbe; in beiden Fällen kann es erst erkannt werden, wenn das Ende erreicht ist. Falsch ist an sich weder der eine noch der andere Weg; unheilvoll wird er erst dann, wenn ein Schwacher, oder ein Mensch, der voll Sehnsucht ist wie ich, den Weg der Kraft wählt, und ein Starker den Pfad der Schwäche. Einstmals, zur Zeit Mosis, als es bloß zehn Gebote gab, war es verhältnismäßig leicht, ein Zadik Tomim — ein vollkommen Gerechter — zu sein, heute ist es unmöglich, wie jeder fromme Jude weiß, der sich bemüht, die zahllosen rituellen Gesetze zu halten. Heute muß Gott uns helfen, sonst können wir Juden den Weg nicht mehr gehen. Die darüber klagen, sind Toren, — der Weg der Schwäche ist nur vollkommener und leichter geworden, und dadurch ist auch der Pfad der Kraft klarer, denn keiner, der sich selbst erkennt, kann sich mehr auf das Gebiet verirren, in das er nicht gehört. — Die Starken haben keine Religion mehr nötig; sie gehen frei und ohne Stock; diejenigen, die nur an Essen und Trinken glauben, brauchen ebenfalls keine Religion; sie haben sie noch nicht nötig. — Sie bedürfen keines Stockes, denn sie gehen nicht, sie bleiben stehen.“
„Haben Sie nie etwas von einer Möglichkeit, die Gedanken zu beherrschen, gehört, Herr Sephardi? “ fragte Hauberrisser, „ich meine es nicht im alltäglichen Sinne des sogenannten Sichbeherrschenkönnens, das man besser das Unterdrücken einer Gefühlswallung und so weiter nennen sollte. Ich denke dabei an das gewisse Tagebuch, das ich gefunden habe und von dem Pfeill vorhin erzählte.“
Sephardi erschrak.
Er schien die Frage erwartet oder befürchtet zu haben, und warf einen schnellen Blick auf Eva.
In seinem Gesicht malte sich wiederum derselbe Ausdruck von Schmerz, den Baron Pfeill schon früher an ihm bemerkt hatte.
Dann raffte er sich auf, aber man hörte ihm an, wie er sich zum Reden zwang:
„Das Herrwerden über die Gedanken ist ein uralter heidnischer Weg zum wirklichen Übermenschentum, aber nicht zu jenem, von dem der deutsche Philosoph Nietzsche gesprochen hat. — Ich weiß nur sehr wenig darüber. Mir graut davor. — — In den letzten Jahrzehnten ist mancherlei über die „Brücke zum Leben “ — so lautet die echte Bezeichnung dieses gefahrvollen Pfades — von Osten her nach Europa gedrungen, aber zum Glück so wenig, daß keiner, der die ersten Schlüssel nicht hat, sich zurecht finden könnte. Das Wenige hat schon genügt, um viele tausend Menschen, besonders Engländer und Amerikaner, die alle diesen Weg der Magie — es ist nichts anderes — erlernen wollten, außer Rand und Band zu bringen. Eine umfangreiche Literatur ist darüber entstanden und ausgegraben worden, zu Dutzenden laufen Schwindler aller Rassen herum, die sich als Eingeweihte gebärden, — aber, Gott sei Dank, noch weiß kein einziger, wo die Glocke hängt, die da läutet. — Scharenweise sind die Leute nach Indien und Tibet gepilgert, ohne zu wissen, daß dort das Geheimnis längst erloschen ist. Sie wollen es noch heute nicht glauben. — Wohl haben sie dort etwas gefunden, was einen ähnlichen Namen trägt, — aber es ist etwas anderes, das schließlich nur wieder zum Weg der Schwäche, den ich vorhin erwähnt habe, oder zu den Verwirrungen eines Klinkherbogk führt. Die paar alten Originalschriften, die darüber existieren, klingen sehr offenherzig, sind aber in Wahrheit der Schlüssel beraubt und der sicherste Zaun, um das Mysterium zu schützen. — Es hat auch einmal unter den Juden eine ‚Brücke zum Leben‘ gegeben, und die Bruchstücke, die ich darüber kenne, stammen aus dem 11. Jahrhundert. Ein Vorfahre von mir, ein gewisser Salomon Gebirol Sephardi, dessen Lebensbeschreibung in unserer Familienchronik fehlt, hat sie in doppelsinnigen Randbemerkungen zu seinem Buch Megôr Hayyîm niedergelegt und wurde deshalb von einem Araber ermordet. Angeblich soll eine kleine Gemeinde im Orient, die in blaue Mäntel gekleidet geht und ihre Herkunft merkwürdigerweise von eingewanderten Europäern — Schülern der ehemaligen Goldenen- und Rosen-Kreuzer — ableitet, das Geheimnis in seiner Gänze noch bewahren. — Sie nennen sich: Paradâ, das ist ‚Einer, der zum andern Ufer hinübergeschwommen ist‘.“
Sephardi stockte einen Moment und schien an einem Punkt in der Erzählung angelangt zu sein, über den hinwegzukommen, er seine ganze Kraft aufbieten mußte.
Er krampfte die Nägel in die Handflächen, und sah eine Weile stumm zu Boden.
Endlich riß er sich auf, blickte Eva und Hauberrisser abwechselnd fest an und sagte klanglos:
„Wenn es aber einem Menschen gelingt, über die ‚Brücke des Lebens‘ hinüberzuschreiten, so ist es ein Glück für die Welt. Es ist fast mehr, als wenn ihr ein Erlöser geschenkt wird. — Nur etwas ist vonnöten: ein einzelner kann dieses Ziel nicht erreichen, er braucht dazu — — eine Gefährtin. — Nur durch eine Verbindung männlicher und weiblicher Kräfte ist es überhaupt möglich. Darin liegt der geheime Sinn der Ehe, der der Menschheit seit Jahrtausenden verloren gegangen ist. “ — Die Sprache versagte ihm, er stand auf und trat ans Fenster, um sein Gesicht zu verbergen, ehe er scheinbar wieder ruhiger fortfahren konnte: „Wenn ich Ihnen beiden mit meinem geringen Wissen über dieses Gebiet jemals behilflich sein kann, so verfügen Sie über mich.“
— — — — — — — —
Wie ein Blitz trafen Eva seine Worte. — Sie verstand jetzt, was in ihm vorgegangen war. — Die Tränen schossen ihr in die Augen.
Daß Sephardi mit dem durchdringenden Scharfblick eines Menschen, der sein ganzes Leben in Abgeschlossenheit von der Außenwelt zugebracht, die Dinge, die sich zwischen Hauberrisser und ihr anbahnten, vorausgesehen hatte, lag auf der Hand. Was aber mochte ihn bewogen haben, die Entwicklung der aufkeimenden gegenseitigen Verliebtheit, die unausweichlich vor ihnen lag, auf so hemmungslose Weise abzukürzen, — sie beide fast brüsk zu einer Entscheidung zu drängen?
Wäre nicht sein ganzes Wesen so über jeden Zweifel erhaben echt gewesen, — hätte sie an den raffinierten Versuch eines eifersüchtigen Nebenbuhlers glauben müssen, der durch wohlberechnetes Dazwischenfahren ein sich spinnendes zartes Gewebe zerreißen will. —
Oder war es vielleicht der heroische Entschluß eines Menschen, der sich nicht stark genug fühlt, die langsame Marter allmählicher Entfremdung von einer heimlich geliebten Frau zu ertragen, und es vorzieht, selber ein Ende zu machen, statt vergeblich zu kämpfen?
Eine Ahnung drängte sich ihr auf, als müsse noch irgend etwas anderes der Grund seines schnellen Handelns sein, — etwas, was mit seinem Wissen über die „Brücke des Lebens “ zusammenhing, von der er, offenbar absichtlich, mit so knappen Worten gesprochen hatte. — —
Sie gedachte der Worte Swammerdams vom plötzlichen Galoppieren des Schicksals; sie klangen ihr in den Ohren.
Als sie in der verflossenen Nacht vom Geländer der Gracht des Zee Dyk in die dunklen Wasser hinabgestarrt hatte, war der Mut über sie gekommen, dem Rat des alten Mannes zu folgen und mit Gott zu reden.
Was sie jetzt erlebte — war es bereits die Folge davon? — Eine bange Angst, daß es so sein müsse, erschreckte sie. — Das Bild der finstern Nikolaskirche, das eingesunkene Haus mit der eisernen Kette und der Mann in dem Boot, der sich so scheu vor ihr zu verbergen getrachtet hatte, huschte schreckhaft wie die Erinnerung an einen bösen Traum durch ihr Bewußtsein.
Hauberrisser stand am Tisch und ließ wortlos und erregt die Blätter eines Buches durch die Finger laufen.
Eva fühlte, daß es an ihr war, die peinliche Stille zu brechen.
Sie ging zu ihm, sah ihm fest in die Augen und sagte ruhig:
„Die Worte Doktor Sephardi’s sollen nicht der Anlaß sein, daß eine befangene Stimmung zwischen uns Platz greift, Herr Hauberrisser; sie sind aus dem Mund eines Freundes gekommen. Was das Schicksal mit uns vorhat, können wir beide nicht wissen. Heute sind wir noch frei, ich wenigstens bin es; will uns das Leben zusammenführen, werden wir es weder ändern können, noch wollen. — Ich sehe nichts Unnatürliches und nichts Beschämendes darin, diese Möglichkeit ins Auge zu fassen. — Morgen früh fahre ich nach Antwerpen zurück; ich könnte die Reise verschieben, aber es ist besser, wir kommen jetzt für längere Zeit nicht zusammen. Ich möchte nicht die Unsicherheit mit mir herumtragen, Sie oder ich hätten unter dem Eindruck einer kurzen Stunde voreilig ein Band geknüpft, das sich später nicht mehr ohne Schmerz lösen ließe. — Wie ich aus der Erzählung Baron Pfeills erfahren habe, sind Sie einsam — wie ich; lassen Sie mich das Gefühl mitnehmen, daß ich es von jetzt an nicht mehr bin und jemand Freund nennen darf, mit dem mich gemeinsam die Hoffnung verbindet, einen Weg zu suchen und zu finden, der jenseits der Alltäglichkeit liegt. — Und zwischen uns “ — sie lächelte zu Sephardi hinüber, — „bleibt die alte, treue Freundschaft bestehen, nicht wahr?“
Hauberrisser ergriff die dargebotene Hand und küßte sie.
„Ich bitte Sie nicht einmal, Eva, — seien Sie mir nicht böse, daß ich Sie mit dem Vornamen nenne, — Sie möchten in Amsterdam bleiben und nicht reisen. Es wird das erste Opfer sein, das ich bringe, daß ich Sie am selben Tage noch verliere, wo ich Sie — — — “
„Wollen Sie mir den ersten Beweis Ihrer Freundschaft geben? “ unterbrach Eva schnell; „dann reden Sie jetzt nicht mehr von mir. Ich weiß, daß es weder Höflichkeit noch leere Form ist, die Ihnen die Worte, die Sie sagen wollen, eingibt, — aber, bitte, beenden Sie den Satz nicht. Ich möchte, daß — die Zeit uns belehren soll, ob wir einander mehr sein werden als Freunde.“ — —
Baron Pfeill war aufgestanden, als Hauberrisser zu sprechen begonnen hatte, und wollte unauffällig, um die beiden nicht zu stören, das Zimmer verlassen. Da er sah, daß ihm Sephardi nicht folgen konnte, ohne dicht an ihnen vorüber zu gehen, trat er an das runde Ecktischchen neben der Tür und griff nach dem Zeitungsblatt.
Ein Ausruf der Bestürzung entfuhr ihm, nachdem er die ersten Zeilen durchflogen hatte:
„Am Zee Dyk ist heute nacht ein Mord geschehen! “ —
Laut und die nebensächlichen Stellen eilig überspringend, las er den andern, die erschreckt aufhorchten, vor:
„Der Täter bereits entdeckt.
Wir bringen zu unserm Bericht in der Mittagsausgabe nachträglich folgendes:
Als der am Zee Dyk wohnhafte Privatgelehrte Jan Swammerdam noch vor Tagesanbruch die von ihm aus bisher unaufgeklärten Gründen von außen abgeschlossene Dachkammer Klinkherbogks aufsperren wollte, fand er sie halb offen stehen und erblickte beim Betreten des Zimmers die blutüberströmte Leiche der ermordeten kleinen Katje. Der Schuster Anselm Klinkherbogk war verschwunden, ebenso eine größere Summe Geldes, die er nach Aussage Swammerdams noch am Abend besessen hatte.
Der Verdacht der Polizei richtete sich sofort auf einen im Hause bediensteten Kommis, den eine Frau gesehen haben will, wie er sich mit einem Schlüssel in der Dunkelheit an der Tür der Dachkammer zu schaffen machte. Er wurde sofort in Haft genommen, aber bereits wieder in Freiheit gesetzt, da sich inzwischen der wirkliche Täter selbst gestellt hat.
Man vermutet, daß der greise Schuhmacher zuerst und hierauf sein Enkelkind, das vermutlich über dem Lärm erwacht war, ermordet worden ist. — Seine Leiche wurde offenbar aus dem Fenster hinab in die Gracht geschleudert. — Ein Abschleppen des Wassers führte bisher zu keinem Resultat, da der Grund an dieser Stelle mehrere Meter tief aus weichem Morast besteht.
Es ist nicht ausgeschlossen, wenn auch wenig wahrscheinlich, daß der Täter den Mord in einem Dämmerzustand begangen haben könnte, wenigstens sind seine Angaben vor dem Kommissär äußerst verworren. — Das Geld geraubt zu haben, gibt er zu. Es handelt sich also um einen Raubmord. Das Geld, man spricht von mehreren tausend Gulden, soll dem Schuster Klinkherbogk von einem stadtbekannten Verschwender geschenkt worden sein. — Eine Warnung, wie übel angebracht derartige Wohltäterlaunen oft sein können. “ — — —
Pfeill ließ das Blatt sinken und nickte traurig vor sich hin.
„Und der Täter? “ fragte Fräulein van Druysen hastig. „Natürlich der grauenhafte Neger?“
„Der Täter? “ — Pfeill schlug die Seite um, „der Täter ist — — — dahier steht’s: Als Täter bekannte sich ein alter russischer Jude, namens Eidotter, der ein Spirituosengeschäft im selben Hause betreibt. Es ist höchste Zeit, daß endlich am Zee Dyk usw., usw.“
„Simon, der Kreuzträger? “ rief Eva erschüttert. „Ich glaube nun und nimmer, daß er ein so scheußliches Verbrechen mit Vorbedacht hat begehen können!“
„Auch nicht in einem Dämmerzustand, “ murmelte Doktor Sephardi.
„Sie meinen also, es war der Kommis Hesekiel? “
„Der ebensowenig. Schlimmstenfalls wollte er mittels eines Nachschlüssels die Dachkammer aufsperren, um das Geld zu stehlen, und wurde im letzten Moment daran verhindert. — Der Neger war der Mörder; es liegt auf der Hand. “
„Was kann aber um Himmelswillen den alten Lazarus Eidotter veranlaßt haben, sich für den Täter auszugeben? “
Doktor Sephardi zuckte die Achseln. — „Vielleicht glaubte er im ersten Schrecken, als die Polizei kam, Swammerdam habe den Schuster umgebracht, und wollte sich für ihn opfern. In einem Anfall von Hysterie. — Daß er nicht normal ist, habe ich auf den ersten Blick gesehen. Erinnern Sie sich, Fräulein Eva, was der alte Schmetterlingssammler über die Kraft gesagt hat, die im Namen verborgen liegt? — Eidotter braucht seinen Geistesnamen Simon nur eine genügend lange Zeit ‚geübt‘ zu haben und es ist keineswegs ausgeschlossen, daß sich in ihm folgedessen die Idee eingewurzelt hat, ein Opfer für andere zu bringen, wann immer sich die Gelegenheit ergeben würde. Ich bin sogar der Ansicht, daß der Schuster Klinkherbogk, bevor er selbst ermordet wurde, das kleine Mädchen im Religionswahnsinn getötet hat. — Er hat viele Jahre hindurch den Namen Abram geübt, das ist erwiesen, — hätte er statt dessen das Wort Abraham innerlich wiederholt, wäre die Katastrophe der Schlachtung Isaak’s kaum eingetreten. “
„Was Sie da sagen, ist mir ein vollkommenes Rätsel, “ fiel Hauberrisser ein; „ein Wort beständig in sich hineinsprechen sollte das Schicksal eines Menschen bestimmen oder ändern können?“
„Warum nicht? Die Fäden, die die Taten eines Menschen lenken, sind gar fein. Was im ersten Buch Mosis über die Umänderung der Namen Abram in Abraham und Sarai in Sarah steht, hat mit der Kabbala — oder eher noch mit andern, weit tieferen Mysterien zu tun. — Ich habe gewisse Anhaltspunkte, daß es falsch ist, die geheimen Namen auszusprechen, wie der Kreis Klinkherbogks es tut. — Wie Sie vielleicht wissen, bedeutet jeder Buchstabe im Hebräischen gleichzeitig eine Zahl, zum Beispiel: S = 21, M = 13, N = 14. Wir sind also imstande, einen Namen in Ziffern zu verwandeln und aus diesen Verhältniszahlen in der Vorstellung geometrische Körper zu konstruieren: einen Würfel, eine Pyramide und so weiter. Diese geometrischen Formen sind es, die sozusagen das Achsensystem unseres bis dahin gestaltlosen Innersten werden können, wenn wir es in der richtigen Weise und mit der nötigen Gedankenwucht imaginieren. Wir machen dadurch unsere ‚Seele‘ — ich habe keinen andern Ausdruck dafür — zu einem Krystallgebilde und schaffen ihr die darauf bezüglichen ewigen Gesetze. — Die Ägypter haben sich die Seele in ihrer Vollendung als Kugel gedacht. “
„Worin könnte nach Ihrer Ansicht, falls der bedauernswerte Schuster wirklich seine Enkelin getötet haben sollte, “ fragte Baron Pfeill sinnend, „der Fehler in der ‚Übung‘ gelegen haben? Ist der Name Abram so grundverschieden von Abra—ham?“
„Klinkherbogk hat sich selbst den Namen Abram gegeben; er wuchs aus seinem eignen Unterbewußtsein hervor, daher das Verhängnis! Es fehlte das von Oben-Herabkommen der Neschamah, wie wir Juden es nennen — des geistigen Hauches der Gottheit — hier in diesem Falle der Silbe ‚ha‘. In der Bibel wurde dem Abra—ham das Opfer des Isaak erlassen. Der Abram hätte zum Mörder werden müssen, so wie Klinkherbogk es geworden ist. — Klinkherbogk hat in seinem Durst, das Ewige Leben zu suchen, selber den Tod gerufen. — Ich sagte vorhin, wer schwach ist, soll nicht den Weg der Kraft gehen. Klinkherbogk ist von dem Pfade der Schwäche — des Wartens —, der für ihn bestimmt war, abgewichen. “
„Aber irgend etwas muß doch für den armen Eidotter geschehen! “ rief Eva. „Sollen wir denn untätig zusehen, wie er verurteilt wird?“
„So rasch geht das Verurteilen nicht, “ beruhigte sie Sephardi. „Morgen früh will ich zu dem Gerichtspsychiater Debrouwer — ich kenne ihn von der Universität her — gehen und mit ihm sprechen.“
„Nicht wahr, Sie nehmen sich auch des armen alten Schmetterlingssammlers an und schreiben mir nach Antwerpen, wie es ihm geht? “ bat Eva, stand auf und reichte nur Pfeill und Sephardi zum Abschied die Hand. „Und auf Wiedersehen in nicht allzuferner Zeit.“
Hauberrisser verstand sofort, daß sie von ihm begleitet zu sein wünschte, und half ihr in den Mantel, den der Diener hereingebracht hatte.
— — — — — — — —
Die Kühle der Abenddämmerung lag feucht um die duftenden Linden, wie sie durch den Park schritten. Steinerne griechische Statuen schimmerten weiß aus dem Dunkel belaubter Bogengänge und träumten beim Plätschern der in den verirrten Lichtern der Bogenlampen vom Schlosse her silbrig glitzernden Fontänen.
„Darf ich Sie nicht zuweilen in Antwerpen besuchen kommen, Eva? “ fragte Hauberrisser gepreßt und fast schüchtern. „Sie verlangen von mir, ich soll warten bis die Zeit uns zusammenbringt. Glauben Sie, daß es durch Briefe besser geschieht, als wenn wir uns sehen? Wir fassen doch beide das Leben anders auf als es die Menge tut, warum eine Wand zwischen uns schieben, die uns nur trennen kann?“
Eva wandte den Kopf ab. „Wissen Sie denn wirklich genau, daß wir für einander bestimmt sind? — Das Zusammenleben zweier Menschen mag etwas sehr Schönes sein, — warum geschieht es dann so häufig, ja, beinah immer, daß es nach kurzer Zeit in Abneigung und Bitternis endet? — Ich habe mir schon oft gesagt, daß etwas Unnatürliches darin liegen muß, wenn ein Mann sich an eine Frau kettet. Es kommt mir so vor, als brächen ihm dadurch die Flügel. — — Bitte, lassen Sie mich zu Ende sprechen, ich kann mir denken, was Sie sagen wollen — — “
„Nein, Eva, “ unterbrach Hauberrisser rasch, „Sie irren; ich weiß, was Sie fürchten, das ich sagen könnte; Sie wollen nicht hören, was ich für Sie empfinde, und darum schweige ich auch darüber. — Die Worte Sephardi’s, so ehrlich sie gemeint waren und so sehr ich aus tiefstem Herzen hoffe, daß ihr Sinn in Erfüllung gehen möge, haben doch — ich fühle das immer schmerzlicher — eine fast unübersteigbare Schranke zwischen uns gesetzt. Wenn wir uns nicht mit aller Kraft bemühen, sie niederzureißen, wird sie dauernd zwischen uns stehen. Und doch bin ich eigentlich innerlich froh, daß es nicht anders gekommen ist. — Daß eine Ehe aus Nüchternheit zwischen uns geschlossen werden könnte, haben wir beide nicht zu befürchten; — was uns gedroht hat, — verzeihen Sie, Eva, daß ich die Worte ‚wir‘ und ‚uns‘ gebrauche, — war, daß uns die Liebe und der Trieb allein zusammengeführt hätten. — Doktor Sephardi hat recht gehabt, als er sagte, der Sinn der Ehe sei den Menschen verloren gegangen.“
„Das ist es doch, was mich quält, “ rief Eva. „Ich stehe ratlos und hilflos vor dem Leben wie vor einem gefräßigen, scheußlichen Ungeheuer. Alles ist schal und abgenützt. Jedes Wort, das man gebraucht, ist staubig geworden. Ich komme mir vor wie ein Kind, das sich auf eine Märchenwelt freut — und ins Theater geht und schminkebeklexte Komödianten sieht. — Die Ehe ist zu einer häßlichen Einrichtung herabgesunken, die der Liebe den Glanz raubt und Mann und Frau zur bloßen Zweckmäßigkeit erniedrigt. Es ist ein langsames, trostloses Versinken im Wüstensand. — Warum ist es bei uns Menschen nicht wie bei den Eintagsfliegen?“ — sie blieb stehen und blickte sehnsüchtig zu einem lichtbeglänzten Brunnen hin, den goldene Wolken schwärmender Falter wie ein wogender Feenschleier umgaben, — „Jahre kriechen sie als Würmer über die Erde, bereiten sie sich vor auf die Hochzeit, wie auf etwas Heiliges, — um einen einzigen kurzen Tag der Liebe zu feiern und dann zu sterben.“ — Sie hielt plötzlich inne und schauderte.
Hauberrisser sah an ihren dunkel gewordenen Augen, daß ein Gefühl tiefster Ergriffenheit über sie gekommen war. Er zog ihre Hand an seine Lippen.
Eine Weile stand sie regungslos, dann schlang sie langsam, wie in halbem Schlaf, beide Arme um seinen Nacken und küßte ihn. — — — —
„Wann wirst du mein Weib werden? Das Leben ist so kurz, Eva. “
Sie gab keine Antwort, und ohne ein Wort zu sprechen, gingen sie nebeneinander her dem offenen Gittertor zu, vor dem der Wagen Baron Pfeill’s wartete, um Eva nach Hause zu bringen.
Hauberrisser wollte seine Frage wiederholen, ehe sie von ihm Abschied nahm; sie kam ihm zuvor, blieb stehen und schmiegte sich an ihn.
„Ich sehne mich nach dir, “ sagte sie leise, „wie nach dem Tod. Ich werde deine Geliebte sein, ich weiß es gewiß, — aber das, was die Menschen Ehe nennen, wird uns erspart bleiben.“
Er erfaßte die Bedeutung ihrer Worte kaum; er war wie betäubt von dem Glück, sie in seinen Armen zu halten, — dann teilte sich ihm der Schauer mit, der noch in ihr lag, und er fühlte, daß sich ihm das Haar sträubte und sie beide von einem eisigen Hauch umfangen wurden, als nähme der Engel des Todes sie unter seine Schwingen und trüge sie beide weit weg von der Erde in die Blütengefilde einer ewigen Wonne.
Als er aus dem Zustand der Starrheit erwachte, wich das fremdartige, beseeligende Verzücktsein des Sterbens, das er empfunden hatte wie einen alle Sinne verzehrenden Rausch, langsam von ihm und an dessen Stelle trat, wie er dem Wagen nachblickte, der ihm Eva entführte, das Nagen einer unbestimmten, qualvollen Angst, sie nie mehr wiederzusehen.